Chaos

Schneewittchen
Teammitglied
Sprechprobe
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Diesen Text habe ich vor 2 Wochen geschrieben. Es gab keinen bestimmten Auslöser dafür, der erste Satz kam mir wie ein guter Anfang für eine Erzählung vor. Es gibt ein Lied von einer noch nicht allzusehr bekannten britischen Musikerin Anna B Savage - III, die Lyrics haben mich extrem in ihren Bann gezogen, als ich das Lied zuerst entdeckte, hört euch das vielleicht zum zusätzlichen Stimmung-Verstehen an

Dennoch der Hinweis für die sensiblen Seelen unter euch - mancheine:n mag das mehr mitnehmen, als gedacht (so jedenfalls die Reaktion von anderswo).
Ich lade den Text hier hoch, weil ich ihn mir eigentlich extrem gut in einer inszenierten/ szenischen Lesung vorstellen könnte, mit Hintergrundgeräuschen und verteilten Rollen. Vielleicht hat ja eine:r Lust, das auszuprobieren :)


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"Ich war seit 5 Jahren nicht mehr richtig glücklich", sagt sie und lacht, etwas in ihren Augen blitzt auf. "Was?!", antworte ich ungläubig, ich glaube - ich will glauben - ich habe sie falsch verstanden in dem Stimmengewirr. Wir sitzen in unserer Lieblingskneipe, am Tisch ganz hinten, dort wo ein verstimmtes Klavier steht, das seit Jahren niemand mehr gespielt hat. Es ist Freitagabend und ziemlich voll hier, wir klammern uns an unsere halbvollen Biergläser. "Ich war seit 5 Jahren nicht mehr glücklich", wiederholt sie, lauter, diesmal lacht sie nicht mehr, das Funkeln in ihren Augen ist verschwunden. Ich frage mich, ob das nur das schwummrige Licht ist, das mir einen Streich spielt, aber sie schrumpft in diesem Moment ein klein wenig in sich zusammen, mit ihren Händen dreht sie das Bierglas hin und her, zieht es durch die Lache auf dem Tisch, hin und her und es macht mich ganz unruhig. Ich starre sie an, das merke ich jetzt, ich starre sie ungläubig an, fassungslos, dass sie mir solche Tatsachen einfach so eröffnet. Nächste Woche ist ihr Geburtstag, denke ich, wie kann sie so etwas sagen, eine Woche vor ihrem siebenundzwanzigsten Geburtstag, ausgerechnet der siebenundzwanzigste, denke ich. "Aber, wir haben doch Spaß hier, jetzt, oder nicht", sage ich. Ihr Blick weicht meinem aus, fast glaube ich, sie wird zur Antwort mit den Augen rollen, fast hoffe ich es, fast hoffe ich, dass sie nur scherzt, dass das einer ihrer zynischen Witze ist. Als sie mich wieder ansieht, ist es wieder da, dieses Funkeln in ihren Augen, sie weint jetzt. Ich schwanke, ich klammere mich so fest ich nur kann an mein Glas, mir ist schwindelig. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich sie das letzte Mal habe weinen sehen, das stimmt alles nicht, nichts an dieser Situation ist richtig. Mit einer kurzen Bewegung wischt sie sich die Tränen aus dem Gesicht und lächelt mich an, sie zuckt mit den Schultern und sagt "Spaß, ja, schon. Aber Glück ist das hier doch nicht". Sie schaut mich lange an. "Ich glaube, mit mir stimmt irgendetwas nicht. Also, so richtig. Und damit meine ich nicht, ich bin manchmal ein bisschen traurig oder es gibt bessere und schlechte Tage, natürlich gibt es die, das meine ich nicht. Was ich meine ist, ich bin so voll mit Traurigkeit und Gedanken, ich glaube, ich laufe bald über, ich glaube, ich stehe eines Tages auf und versuche wieder so zu tun, als wäre alles okay und dann werde ich einfach platzen, einfach explodieren." Ihre Stimme zittert jetzt ein wenig, sie beugt sich zu mir über den Tisch, ihre langen Haare hängen in der Bierlache und ich kann nicht aufhören, darauf zu starren, auf ihre nassen Haarspitzen in der spiegelnden Bierpfütze. "Aber, aber ich - wieso hast du nicht - ich wusste nicht - du warst doch immer so stark, du warst immer die Stärkere, du bist so stark, ich glaube, du bist der stärkste Mensch, den ich kenne, ich kann nicht -", stammele ich, ihr zittern geht auf mich über, ich spüre es auf mich übergehen, es kriecht über meine feuchten Fingerspitzen, es wandert über meine Arme in meine Brust, ich höre mein Herz darin schlagen, plötzlich höre ich es so laut, inmitten all der Stimmen, aber ihre Stimme kann es nicht übertönen, als sie sagt "Manchmal kann ich den Sinn in all dem hier nicht sehen, was soll das denn sein, dieses Leben? Es geht doch seit Jahren nur bergab mit uns, mit der Menschheit, mit der Welt, mit mir. Ich kann nicht mehr einschlafen, manche Nächte liege ich wach, bis es wieder Morgen wird und kann nicht aufhören zu denken, kann nicht aufhören zu denken und ich kann erst einschlafen, wenn ich mir vorstelle, wie es ist, endlich zu ertrinken, in all dieser Traurigkeit und nie wieder aufzuwachen". Das Zittern wandert jetzt in meinen Bauch und mein Magen krampft sich zu einem kalten Klumpen zusammen, die Kälte kriecht in meine Beine und am liebsten würde ich gehen, gehen und sie mitziehen, fort von hier, fort von ihren Gedanken, ich würde sie gerne zurücklassen mit dem letzten Schluck Bier und der Lache auf dem Tisch, aber sie kommt mir zuvor. Mit einem Ruck richtet sie sich auf, streicht sich die Haare hinter beide Ohren. "Lass uns noch woanders hingehen, ja? Lass uns tanzen gehen", sagt sie und lächelt aufmunternd und wischt alles in einer auffordernden Bewegung beiseite, die Traurigkeit in ihrem Gesicht, das Zittern, aber das Funkeln in ihren Augen bleibt und es macht mir Angst.
 

Nee

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Trauriger Text. Schön geschrieben.

Nächste Woche ist ihr Geburtstag, denke ich, wie kann sie so etwas sagen, eine Woche vor ihrem siebenundzwanzigsten Geburtstag, ausgerechnet der siebenundzwanzigste, denke ich.

Die Andeutung find ich besonders bedrohlich. Sie passt auch so gut in das belebte Drumherum (generell schöner Konstrast: Gesprächinhalt vs. fröhliches Bartreiben).
 

Chaos

Schneewittchen
Teammitglied
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@Nee Danke!
Ja, die Andeutung lasse ich ja auch bewusst so im Raum hängen. Weil - eigentlich weiß das Ich ja überhaupt nicht, wie es Ihr wirklich geht, also so ganz explizit. Aber die Katastrophengedanken kommen dennoch.
Ich hab glaube ich versucht, es zu einem realistischen Gesprächsszenario zu machen. Ich glaube wir kennen das alle, man schneidet an, man findet nicht die richtigen Sätze, man redet um den heißen Brei und kommt zu irgendwelchen Schlüssen, aber niemand sagt dir, ob die wirklich stimmen.
 

Feenstaubtrulla

Sabrina Letzner
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Falls jemand das in Live Regie erarbeiten möchte, bin ich gerne dabei.
Traue mich allerdings noch nicht ohne Hilfe an so einen emotionalen Text.

Sehr schöner Text
 
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