Ani

Nicht mehr die Frau im Schrank :D
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Hi zusammen, hier mal eine Kurzgeschichte von mir. Lasst mich gern wissen, ob sie euch gefällt, Kritik ist gern gesehen :)

Gedankenfische

„Hey Mum!“. Flynn trat durch die Tür und blieb augenblicklich stehen. Der dringliche, fast gierige Blick seiner Mutter ließ ihn erschaudern.
„Flynn, da bist du ja! Hast du mir mitgebracht, um was ich dich gebeten hatte?“.
Flynn seufzte. „Natürlich, Mum. Du hast deutlich genug gemacht, wie dringend es ist…“. Er befreite sich aus seiner Schauderstarre, trat vor die im Rollstuhl sitzende Frau und reichte ihr das noch in Folie verpackte Notizbuch. Sie war eigentlich gar nicht so alt, hatte letztes Jahr erst die 50 vollgemacht. Trotzdem sah sie genau jetzt – und eigentlich meistens, wenn Flynn sie besuchte – mehr wie achtzig aus. Ihr ganzer Körper wirkte wie ausgemergelt. Die Beine hingen schlaff vom Sessel hinunter. Ihr hellbraunes Haar, das mit großzügigen silbernen Partien durchzogen war, hatte sich durch liebloses Kämmen zu einer sehr eigenwilligen Frisur zusammengefunden.
„Danke, mein Sohn! Heute ist sehr viel los, ich komme gar nicht hinterher. Warum hat das so lange gedauert?“. Flynn schaute seine Mutter skeptisch an. „Ich habe noch kurz mit Anke gesprochen. Sie macht sich ein wenig Sorgen um dich, Mum“. „Ach, die Anke, die ist eine liebe! Grüß sie schön von mir, ja?“. In etwas leiserem Ton, fast zu sich selbst murmelnd antwortete Flynn: „Du könntest sie selbst grüßen, wenn du dich mal aus diesem Sessel erheben würdest...“.
Seine Mutter hörte ihn nicht. Sie hatte bereits das neue Notizbuch ausgepackt und aufgeschlagen vor sich auf dem Schoß liegen. Sie griff zu einem Stift und schrieb in der schönsten Schrift, die ihr möglich war, das heutige Datum und die Zeit in die erste Zeile der Seite. Dann sah sie ihren Sohn an. Er konnte ihren Blick zuerst nicht deuten, war das… Mitleid? „Mein Sohn, ich werde die nächsten Stunden zu tun haben. Es ist so schade, dass du sie nicht sehen kannst, sonst könnten wir sie zusammen notieren… Aber nun ist es wohl besser, wenn du gehst.“
Flynn war nicht irritiert, nur traurig. Seine Mutter hatte ihm schon mehrmals von den ‚Gedankenfischen‘ erzählt, die um ihren Kopf herumflogen und ihr Dinge zuflüsterten. Die Ärzte stuften es als krankheitsbedingte Halluzinationen ein. Aber das Problem war, dass niemand herausfand, was die eigentliche Krankheit war.
Flynn öffnete den Mund, wollte noch etwas zum Abschied sagen, doch der Anblick seiner Mutter, wie sie dort saß mit in den Nacken gefallenem Kopf, Augen, die aussahen als würden sie alles im Raum begutachten und doch nichts sehen und dem Stift über der ersten Seite des frischen Notizbuchs schwebend, ließ ihn einhalten. Stumm wandte er sich zur Tür und verließ den Raum.

Er steuerte direkt den kleinen mit vielen Fenstern versehenen Raum in der Mitte des Gangs an und klopfte gegen eine der Türen. Eine Frau mittleren Alters und mit gestresstem Gesichtsausdruck öffnete, doch ihre Mine wurde sofort weicher als sie ihn erblickte. „Herr Meyer, hallo. Was kann ich für Sie tun?“. Flynn zögerte. „Schwester Anke… meinen Sie, die aktuelle Therapie ist die richtige für meine Mutter? Ich habe eher das Gefühl, dass es schlimmer wird…“. Sie schaute ihn sanft an. „Das kann ich Ihnen nicht sagen, Herr Meyer. Die Ärzte tun, was sie können, um herauszufinden, was genau den Zustand ihrer Mutter auslöst.“. Sie versuchte, ihm mit ihrer Stimme Mut zu machen. „Aber auf die neuen Medikamente spricht sie sehr gut an. Sie können jetzt nichts anderes tun, als für Ihre Mutter da zu sein und zu warten, bis die Ärzte zu einem Ergebnis kommen.“. Sie hatte recht, das wusste er. Trotzdem war die Antwort enttäuschend. Er atmete einmal tief ein und aus, bevor er sich ein „Danke, Schwester Anke… bis morgen.“ abrang und den Ausgang ansteuerte.

Das Telefon schrillte laut in dem stillen Raum. Flynn schreckte aus dem Schlaf hoch und brauchte ein paar Sekunden, das Geräusch zuzuordnen. Ein Anruf, mitten in der Nacht. Das konnte nichts gutes bedeuten… Er tastete nach dem Schalter für die Lampe auf seinem Nachttisch. Als das Licht die Dunkelheit seines Schlafzimmers erhellte, erspähte er das Telefon, das unermüdlich weiter klingelte. Er griff danach und nahm das Gespräch an. „Hallo?“. Die sanfte Stimme am anderen Ende versuchte ihm auf schonende Weise nahezubringen, was er irgendwie schon gewusst hatte, als das nächtliche Telefonklingeln ihn aus dem Schlaf gerissen hatte. Seine Mutter hatte die Nacht nicht überlebt. Er hörte die Stimme durch das Telefon wie durch Watte, sein eigener Herzschlag pochte so laut in seinem Kopf, dass er kaum noch etwas anderes wahrnahm. Er meinte, plötzlich weitere Stimmen zu hören, doch er konnte sie nicht verstehen. Er strengte sich an, zu erkennen, was sie sagten, doch ohne Erfolg. „Herr Meyer? Sind sie noch dran?“ holte ihn die Telefonstimme zurück. „Ja“ sagte er leise. „Ich habe verstanden. Ich komme nachher vorbei, um alles zu klären.“. Dieser Satz war fast automatisch aus seinem Mund gekommen. Er beendete das Telefonat und ließ sich wieder ins Bett fallen. Er schloss die Augen, doch an Schlaf war nicht mehr zu denken. Stattdessen versuchte er, die vorher gehörten Stimmen wieder zu entdecken, doch sie waren verschwunden.

Als Flynn später den Gang der Station 4 betrat, wurde er bereits erwartet. Schwester Anke schenkte ihm ein trauriges Lächeln, bevor er sie ihn in das Zimmer seiner Mutter führte. „Wie ist es passiert?“. Es kostete ihn Überwindung, diese Frage zu stellen. „Nun, das wird noch untersucht, Herr Meyer. Es sieht so aus, als… „. Die Schwester zögerte. Als müsste sie sich ebenfalls überwinden, Flynn zu antworten. „Als wäre sie erstickt.“ beendete sie in leisem und traurigem Tonfall ihren Satz. Flynn erschrak. „Erstickt?! Wie konnte denn das passieren?“. „Wie gesagt, das wird noch untersucht. Wir informieren Sie natürlich, sobald es neue Erkenntnisse gibt, Herr Meyer.“. Die Situation war der Schwester unangenehm, das sah man ihr an. Flynn fand ein wenig Trost darin, dass er nicht der einzige war, der nicht wusste, wie man sich jetzt verhalten sollte. „Okay, danke“ hörte er sich sagen und Schwester Anke schenkte Flynn ein vorsichtiges Lächeln. Er meinte, ein wenig Erleichterung darin zu erkennen. „Ich lasse Sie dann jetzt mal allein, so dass Sie in Ruhe die Sachen zusammenpacken können. Klingeln Sie einfach, wenn Sie irgendetwas benötigen und lassen Sie sich so viel Zeit, wie Sie benötigen.“. Dann schob sie ein „Mein aufrichtiges Beileid, Herr Meyer“ hinterher und verließ den Raum.

Flynn schaute sich in dem behelfsmäßig eingerichteten Krankenzimmer um. Hier hatte seine Mutter fast das ganze letzte Jahr gelebt. Und er hatte sie so oft er konnte, streckenweise täglich, besucht. Er erlaubte sich ganz kurz ein Gefühl der Erleichterung, bekam aber sofort ein schlechtes Gewissen und legte die Hände vor die Augen, atmete ein paar Mal tief durch. Da passierte es wieder. Sein Herzschlag wurde immer lauter und übertönte alle anderen Geräusche. Eben noch hatte er durch die geschlossene Tür gedämpft das geschäftige Treiben auf dem Krankenhausgang wahrnehmen können, jetzt war da nur noch Rauschen. Und das Geräusch seines eigenen pulsierenden Blutes in seinem Kopf. Irritiert ließ er sich auf den Sessel fallen, auf dem seine Mutter immer gesessen hatte. Er schüttelte den Kopf, versuchte, diesen Zustand abzuschütteln, doch es gelang ihm nicht. Das Rauschen wurde lauter. Das Pochen seines Herzschlags nahm unangenehme Lautstärke an, so dass er befürchtete, ihm würde gleich der Kopf explodieren. Er öffnete die Augen, suchte nach der Klingel, um die Schwester zu rufen, doch er konnte nur noch Umrisse sehen. Sein Atem fing an, immer schneller zu gehen. Panik stieg ihn ihm auf. Seine Finger flogen durch die Umgebung des Sessels, immer noch nach der Klingel suchend. Dann war plötzlich Ruhe. Flynn fühlte, wie sein ganzer Körper sich entspannte. Erleichtert schaute er sich um, doch das Zimmer konnte er immer noch nicht richtig erkennen. Eigentlich wusste er überhaupt nicht, was er da sah. Aber sehen war auch nicht wichtig. Flynn schloss die Augen wieder. Hatte er da gerade etwas gehört? Was waren das für Stimmen, die er wie durch Watte wahrnehmen konnte? Vielleicht aus dem Nebenzimmer, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass hier im Krankenhaus jemand so laut sein konnte, ohne durch die Schwestern ermahnt zu werden. Er versuchte, sich zu konzentrieren, kniff die geschlossenen Augen etwas zusammen, weil er das Gefühl hatte, dann besser hören zu können. Er konnte eine tiefe Männerstimme vernehmen, plötzlich ganz deutlich: „Zeitpunkt des Todes 4:21 Uhr“. Er riss die Augen auf und schnappte nach Luft. Das Zimmer war wieder da. Heftig atmend horchte er in sich hinein, konnte aber keine ungewöhnlichen Geräusche mehr vernehmen. Als Flynn den Schreck langsam verwunden hatte, erblickte er das neue Notizbuch, das er seiner Mutter erst gestern gekauft hatte, auf dem Tisch neben dem Sessel. Zögernd nahm er es in die Hand. Er überlegte kurz, ob es ein zu großer Eingriff in die Privatsphäre seiner Mutter war, es zu lesen. Doch dann wischte er den Gedanken beiseite und schlug die erste Seite auf. Auf die bemüht schön geschriebene Überschrift folgten viele Zeilen, die offensichtlich sehr schnell geschrieben wurden. Einige konnte er kaum entziffern, so ungenau waren die Buchstaben gesetzt worden. Ohne weiter zu versuchen, die Sätze zu lesen, blätterte er durch die Seiten. Ein eisiger Schauer lief ihm über den Rücken, als er feststellte, dass seine Mutter bereits das halbe Buch beschrieben hatte.
Er wechselte zur letzten geschriebenen Seite. Etwas stach ihm dort sofort ins Auge. Sein Name. In Großbuchstaben stand dort „Lieber Flynn“. Mit rasendem Puls und flachem Atem begann er, die nun wieder bemüht verständlich geschriebenen Sätze zu lesen.

„Lieber Flynn! Ich habe heute die ganze Nacht bei den Gedankenfischen verbracht. Du hättest sie sehen müssen, so wunderschön und farbenfroh! Ach Flynn, Worte können dies niemals beschreiben… Mein Sohn, sie haben mir ein Geheimnis verraten. Es liegt in unserer Familie, dass wir sie sehen können. Es ist eine Gabe! Eine einzigartige, leider auch in Bezug auf die Anzahl der Personen, die sie ausüben dürfen. Das bedeutet – falls du es dir nicht schon zusammengereimt hast, mein schlauer Junge – solange ich diese Gabe habe, wird sie niemals jemand anders haben. Deswegen, weil ich dich so sehr liebe, mein Schatz, und so gern möchte, dass du dieselben Erfahrungen machen kannst wie ich, dass du ihre Vollkommenheit und Schönheit bewundern und ihren Weisheiten lauschen kannst… deshalb gebe ich die Gabe frei. Für dich. Hab keine Angst, am Anfang ist das alles noch sehr verwirrend. Aber du schaffst das, denn ich bin in Gedanken bei dir. Immer. Ich liebe dich, mein Junge. Wir werden uns Wiederhören, das verspreche ich. Kuss, Mama.“

Eine Träne tropfte auf das Notizbuch. Flynn hatte gar nicht mitbekommen, dass er angefangen hatte zu weinen. Gestern noch hätte er diese Sätze für den Beweis einer psychischen Krankheit seiner Mutter gehalten. Doch heute… konnte er spüren, dass es die Wahrheit war. Flynn konnte abermals nichts sehen, doch diesmal war es ein Tränenschleier, der die Welt vor ihm verbarg. Er hörte es an der Zimmertür klopfen. Schnell wischte er sich ein paar Mal über die Augen, doch die Tränen sammelten sich schneller wieder an als er sie mit seinem Ärmel aufsaugen konnte. Er sandte ein tränenersticktes „Herein“ zur Tür. Er blinzelte heftig, in der Hoffnung dadurch mehr erkennen zu können, doch das einzige, was er wahrnehmen konnte, war die Kontur eines Mannes in Weiß. Höchstwahrscheinlich ein Arzt. Mit tiefer bestimmter Stimme fing dieser an zu sprechen: „Mein aufrichtiges Beileid, Herr Meyer. Mein Name ist Dr.Steinholdt, ich war gestern Nacht vor Ort, als Ihre Mutter leblos in ihrem Zimmer vorgefunden wurde. Wir haben alles getan, was in unserer Macht stand, aber es war einfach zu spät. Nochmal, mein Beileid zu Ihrem Verlust, Herr Meyer.“. Flynn war wie erstarrt. Er kannte diese Stimme, hatte sie schon mal gehört. Unter Tränen presste er hervor: „Wann?“. Dr.Steinholdt war verwirrt. „Wie bitte?“. „Wann ist sie gestorben?“ fragte Flynn. Der Arzt sog die Luft ein und begann auf einem Tablet in seiner Hand herum zu tippen. Dann antwortete er „Ihr Tod wurde um 4:21 Uhr offiziell bestätigt.“. Flynn begann zu hyperventilieren. Sein Herzschlag wurde wieder lauter und fing an, alle anderen Geräusche zu übertönen. Auch die des Arztes, der nach den Schwestern rief und dann auf ihn zu gerannt kam. Flynn wusste, dass Dr.Steinholdt auf ihn ein redete, doch er konnte ihn nicht hören. Rauschen und Herzschlag und dann – war er wieder da. In diesem Zustand aus Farben und Friedlichkeit und leise wahrnehmbaren Stimmen. Noch immer fiel es ihm schwer, sie zu verstehen, doch er konnte sie schon etwas deutlicher hören. Er konzentrierte sich. Da war eine vertraute Stimme, weit entfernt. Er stellte sich vor, wie er gedanklich nach ihr griff und sie zu sich heranholte. Und zu seinem eigenen erstaunen funktionierte es. Jetzt war die Stimme ganz nah und klar. „Ich wusste, dass du es schaffst, immerhin bist du mein Sohn! Ich liebe dich.“ hörte er seine Mutter sagen.
 

PeBu34

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Was für eine Geschichte! Das ging ganz schön tief! Danke fürs Teilen! :)
 
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