Um mal beim eigentlichen Thema zu bleiben:
Wenn wir es auf eine reine Sachebene herunterbrechen, dann sind sowohl das gedruckte Buch als auch der E-Book-Reader reine Vermittlungsmedien, die a priori nichts über die Qualität und Bedeutung des zu vermittelnden Inhalts aussagen. An den tatsächlichen "Informationen" ändert der Wechsel, die Modernisierung des Mediums zunächst nichts.
Von diesem Punkt ausgehend, scheint mir das mittlerweile vielmehr eine Popkulturfrage zu sein, die mich auf eine Art durchaus amüsiert. Ich gehörte zu den (wahrscheinlich) ersten Zehntausend Avantgardisten im Bereich des E-Readers. Das war ungefähr im Jahre 2006/07, als ich enorm viel international unterwegs war und viel mehr las als heutzutage. Diese Geräte klangen in der Theorie super, weil ich fast mehr Bücher als Kleidung mitschleppte. Also habe ich mir damals eines der ersten, extrem teuren Geräte gekauft - ich glaube, es hieß "IRex" (hab’s zu googeln versucht, aber kaum noch was darüber gefunden). Das Problem, das diese Geräte damals hatten, war, dass sie zum sog. "Screen crash" neigten. D.h., dass die Displays die Tendenz hatten, auch bei leichter Gewalteinwirkung kaputtzugehen (was zu regelmäßigen Anfällen bei mir führte, wenn der Kater meiner damaligen Freundin in die Nähe des Geräts kam - ein Vierkilokater reichte da als "Gewalteinwirkung" genauso aus wie ein Typ, der einen in der Bahn anrempelt). Also habe ich seinerzeit für den Reader einen bruchsicheren Transportkoffer von "Pelican" gekauft, der dasselbe Format hatte wie die Waffenkoffer in den USA. Das hat manchmal am Flughafen für viel Freude gesorgt ...
Damals hat mich mein ganzes Umfeld ausgelacht. "Du immer mit deinem blöden Gerät, hahahaha, Trottel!" Ich kenne nur noch wenige Leute von damals, aber eine Person, die in meinem Leben geblieben ist und sich damals darüber lustig gemacht hat, wirft mir heute vor, technikfeindlich zu sein und liebt ihren E-Reader über alles - wie die Popkultur Einstellungen verändern kann ...
Ich weiß nicht, wie viele von Euch schon mal das Vergnügen hatten, wirklich alte Bücher in den Händen zu halten. Idealerweise 100+, aber weniger ist auch ok. Meine erste Begegnung mit einem recht alten Buch (aus heutiger Sicht: Gar nicht mal so sehr alt) betraf keinen Klassiker der literarischen Hochkultur, sondern ein Buch des amerikanischen Bridge-Spielers Oswald Jacoby über Strategien beim Gin-Rummy-Spiel. Gedruckt wurde es irgendwann in den 1940er Jahren und da es out of print war, habe ich es damals über die (seinerzeit sehr neue) Plattform abebooks aus den USA bestellt. Als das Buch hier ankam, war ich überwältigt. Überwältigt vor allem durch das Bewußtsein der Zeitspanne. Und jenes Bewußtsein hat das haptische Gefühl, den Geruch des Buches auf eine seltsame Art und Weise verändert - es roch dadurch auf eine überhaupt nicht negative Art und Weise alt, ein bißchen als öffnete man eine Kleiderkiste, die man gerade aus dem Wrack der Titanic geborgen hat. Ein Buch, gedruckt in den 40er Jahren, lag in meinen Händen, das nie und nimmer für mich, für meine Generation bestimmt war, dessen Autor keine Kenntnis von mir, meinem Entwicklungsstand, meiner Epoche hat, dessen Essenz, Information, Papiergeruch allerdings seine Zeit auf nahezu magische Weise überlebt hat - ohne dabei seine Gestalt zu verlieren.
Kurzum: Die Tatsache, dass das Wissen sichtbar gealtert war, machte es wertvoll - auf eine ganz besondere magische Weise. (Nun ja, in der Zwischenzeit habe ich Erstausgaben von Dickens’ "Great Expectations" und Schillers "Räuber" in Bestandsbibliotheken in den Händen gehalten - da wirken die 40er Jahre eher schwach, aber damals, als junger Erwachsener, hat es mich nachhaltig beeindruckt).
Hätte dieses Buch über Gin Rummy einen ähnlichen Effekt auf mich gehabt, wenn ich es mir bsplw. bei Gutenberg ’runtergeladen hätte? Nicht im Ansatz. Und die Konsequenz war, dass ich das Wissen, das in diesem Buch niedergeschrieben war, anders, tiefgreifender verinnerlicht habe als ich es bei einem *.pdf-Dokument getan hätte - weil es einen besonderen Wert hatte.
Wissen muss leben. Alles, was lebt, altert. So gerne ich Vampire mag - es gibt sie sehr wahrscheinlich nicht. Bücher sind lebendige Organismen, als Medium Träger eines bewußt zusammengestellten Informationspakets. E-Book-Reader sind als Medium Träger Tausender bewußt zusammengestellter Informationspakete, sie haben im Wesentlichen die Funktion eines Anzeigenbretts im Supermarkt - nicht differenzierend, aber auch nicht wertschätzend. Und genau da liegt in meinen Augen das größte Problem. Wir berauben uns langfristig selbst unserer eigenen Geschichte, indem wir ihr nicht mehr die Gelegenheit geben, zu leben - sie nicht altern zu lassen, sie nicht individuell wertschätzen, indem wir ihnen den Raum geben, ein eigener Organismus zu sein - wir pressen sie auf ein Speichermedium zusammen mit 1.000 anderen, wir machen die Geschichten beliebig, austauschbar, dadurch zeitlos, aber auch nicht verankert in einer Zeit, unfähig zu altern, unfähig in Antiquariaten ausgestellt, von Generation zu Generation weitergereicht zu werden, als etwas "das Opa schon in den Händen hatte, als er so alt war wie du" - wir nehmen dem Wissen, dem Abenteuer, der Spannung, Freude ihre Verankerung in der Zeit - sowohl ihrer Zeit als auch unserer.
Die Gegenthese zu "dieses Buch hatte schon Dein Opa in den Händen" ist: "Dieses Buch hat sich schon Opa damals aus der Cloud geladen, ich ziehe es Dir auf Deinen E-Reader". Dadurch lebt ein Buch vielleicht in unseren Köpfen, unserer Imagination, aber es ist seiner unmittelbaren Körperlichkeit beraubt.
Und wenn es um pure Wissensvermittlung geht - nun ja, ich hätte das Buch über Gin Rummy (zugegeben: Keine akademische Disziplin) nicht im Ansatz so sehr wertgeschätzt, wenn ich es mir irgendwo ’runtergeladen hätte und sehr wahrscheinlich die enthaltenen Informationen nicht so verinnerlicht.
Wenn ein Buch leben soll, dann braucht es neben einer Geschichte auch einen "Körper", der altern und dessen Alterung man sehen kann. Ich weiß und verstehe, dass die Tendenz zum E-Reader geht. Man kann den Fortschritt nicht aufhalten und der E-Reader bietet auch eine Menge Vorteile. Das Verschwinden des Buches als organischer Bestandteil ist allerdings in meinen Augen ein Verlust, dessen Größe wir heute nur annähernd ermessen können.