• Blut-Tetralogie   Dark Space

A. Weltenbruch

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"Entschuldigen Sie meine 5 Minuten Verspätung", sagte der Arzt. Es waren 6 Minuten und 3 Sekunden, aber ich sagte nichts. "Also, wo drückt denn der Schuh?"
"Ich habe zu viel Zeit."
"Sie kommen hierher um Ihre Zeit zu verbringen? Sind Sie nicht etwas jung dafür?" Er legte seine Stirn in Falten.
"Nein, ähm … Ich kann Zeit genau bestimmen. Quasi eine Uhr im Kopf. Aber sie funktioniert nicht mehr richtig."
"Wie meinen Sie das? Eine Uhr im Kopf?" Ich erzählte ihm, dass ich, seit ich klein war, immer genau wusste wie viel Zeit an einem Tag vergangen war. Ganz ohne Uhr.
"Und jetzt?"
"35 Sekunden zu viel gestern. Am Tag davor 17 Sekunden zu viel." Ich hatte es erst gestern bemerkt, nachdem ich meinen Sohn zu meiner Exfrau gebracht hatte. Wie lange es genau ging, wusste ich nicht; irgendwann am Wochenende musste sich etwas geändert haben. War es eine Art Erkältung, die noch nicht ausgebrochen war? Ich hatte ja die ganze Zeit mit ihm Zuhause verbracht und Kinder hatten häufig Krankheiten. Aber bisher hatte eine Krankheit nie Einfluss auf diese Fähigkeit gehabt. Nach einiger Ratlosigkeit schickte mich der Arzt weg, aber empfahl mir davor eine Uhr zu kaufen.
Uhr im Kopf. Kein bekanntes Phänomen.
Eine Uhr also. Ich hatte nie eine Uhr gebraucht, aber ich würde mir eine holen. Ich war kein Uhrmacher, auch wenn das nahelag, sondern investierte in diverse Unternehmen. Nicht, dass ich es nicht probiert hätte. Du kannst eine Uhr extrem genau stimmen, aber eine minimale Kulanz muss man in Kauf nehmen. Nicht die körperlichen Fähigkeiten besitzen es ganz genau zu machen, machte mich rasend.
Der Uhrladen war eine Katastrophe. Als ich eine Uhr entdeckte, die ganze drei Sekunden nachging, wollte ich schon gehen, aber ich wurde angesprochen. "Kann ich Ihnen helfen?" "Ich suche eine Uhr." Er grinste. Das hörte er wohl öfter. "Sie muss zu hundert Prozent genau sein." "Eine Funkuhr?" "In Ordnung, aber ohne Kulanz." "Die Kulanz beträgt im Schnitt einige Millisekunden. Das ist, denke ich, doch verschmerzbar." Ich schüttelte den Kopf. Seine Gedanken schienen mir plötzlich offenzuliegen. Was für ein anstrengender Kunde. Konnte er nicht einfach eine Uhr kaufen und dann verschwinden? Nach längerem hin und her empfahl er mir eine Uhr, die als extrem genau galt und die Millisekunden, die sie danebenlag, waren nicht einmal zweistellig. Schließlich kaufte ich sie und ging nach Hause. Meine karge Zweizimmerwohnung. Mehr war nach den Alimenten nicht drin gewesen. Als ich ins Wohnzimmer trat, stolperte ich über ein Spielzeugauto meines Sohnes. Ich hatte wohl vergessen es wegzuräumen. Ich legte es auf den Esstisch und setzte mich auf die Couch.
Ich starrte auf die Funkuhr. Sah wie sich in gleichen Abständen die Zahlen änderten. 8 Sekunden zu wenig. Es machte mich verrückt.
Ich verließ das Haus, um den Kopf freizubekommen und warf die Uhr in den nächsten Mülleimer. Es half ein wenig an der frischen Luft zu sein. Ich überlegte, was ich tun könnte. Abstellen konnte ich es ja nicht; es irritierte mich nur dauerhaft. Ich ging in das nächstgelegene Internetcafé. Die Anzeige der Atomuhr hatte ich noch nicht betrachtet. Ich suchte kurz nach einer Website und wurde schnell fündig.
17,326 Sekunden zu viel in meinem Kopf. Das konnte doch nicht wahr sein. Ich stand auf und ging zu dem gelangweilt aussehenden, jungen Mann, der die Kasse verwaltete. „Computer 4.“ „Das macht dann 2 Euro“, sagte der Mann. „Ich war keine fünf Minuten dran.“ „Zwei Euro ist der Preis pro angefangene Stunde.“ Ich wollte nicht diskutieren und gab ihm das Geld.
Ich ging nach Hause und glich immer wieder Uhren mit meiner Kopfzeit ab. Bisher passierte nichts. Keine weitere Extrasekunde. Doch gegen 23 Uhr begann es. 2 Sekunden extra. Die Zeit auf der Uhr lief langsamer als die in meinem Kopf.
Am Ende des Tages waren es fast 20 Sekunden.
Am nächsten Tag beobachtete ich erst wieder die Zeit, aber ich merkte, dass es mich auffraß. Ich beschäftigte mich nur noch damit. Ich entschied mich etwas Zeit in einer Kneipe zu verbringen. Wenn ich schon nichts anderes tat, als auf die Uhr zu sehen, konnte ich wenigstens unter Leuten sein und etwas trinken.
In meiner Stammkneipe „Weißkopf“ war um diese Zeit nicht viel los. Ich bestellte ein Bier und der Wirt schenkte mir ein. Er murmelte etwas und heftete seinen Blick an die Übertragung auf einem Fernseher, der über der Bar hing.
Um 15:20:56 war es zum ersten Mal wieder soweit. Eine Sekunde. Doch ich bemerkte es nicht, weil ich auf die Uhr gesehen hatte, sondern weil für einen Moment die Welt um mich herum einzufrieren schien. Für einen Moment stockte die Bewegung des Wirts. Mehr hatte ich in der Zeit nicht wahrgenommen und ein Blick auf eine Uhr bestätigte mir, dass mein Zeitgefühl nicht mehr mit der Welt übereinstimmte (auch wenn ich die letzten Tage herausrechnete). Ich verließ die Kneipe und wartete draußen auf einer Metallbank. Es dauerte lange, aber um 17:28:02 fror die Welt wieder ein. Alle Menschen in der Fußgängerzone blieben für einen Moment stehen und ich starrte sie an. Eingefrorene Gesichter. Leute am Telefon, Leute, die Kaffee tranken, Leute, die bei einem Stand etwas kauften. Wie schockgefrostet. Der Moment war viel zu schnell vorüber, aber die Ahnung, die ich in der Kneipe hatte, wurde für mich nun zur Wahrheit. Was war der Grund dafür?
Ich wollte die Umgebung weiter beobachten. Wollte mehr wissen.
Der nächste Zeitstopp fand nicht viel später statt. Um 17:33:49 fror die Welt wieder ein. Alle Menschen froren ein, bis auf ein einzelner. Ein älterer Mann im Anzug war nicht eingefroren; er bewegte sich einfach weiter. Ich fixierte ihn und als sich die Welt nach 2 Sekunden wieder in Bewegung setzte, stand ich auf und folgte ihm. Ich entschied mich schnell.
Ich griff ihn an der Schulter und er drehte sich um. "Was wissen Sie darüber?" Sein Gesicht setzte keine Mimik auf, die ich erwartet hatte – Verwirrung, Erleichterung oder Erstaunen – sondern Wut. Er packte mich an meinem T-Shirt und presste mich gegen das nächste Schaufenster. "Kriech' zurück in dein Loch“, zischte er. Dann ließ er mich los und ging weiter. Ich rappelte mich auf. Niemand schien sich wirklich für den Vorfall zu interessieren. Einige sahen verstohlen zu mir, aber sonst passierte nichts. Der Mann im Anzug verschwand in der Menge. Ich ließ von ihm ab. Wenn ich ihn weiterverfolgen würde, würde er sicher noch um einiges wütender werden. Doch eine Erkenntnis hatte ich: Es gab weitere wie mich.
Ich setzte mich wieder auf eine Bank mit einem Kaffee, der mich wärmte und wartete weiter ab. Gegen 19:32:42 stoppte die Zeit wieder und ich ließ meinen Blick schweifen, suchte nach einer Bewegung. Eine Frau, knapp dreißig, konnte ich ausmachen. Ich sprach sie nicht direkt an, wollte sie nicht verschrecken, sondern folgte ihr verdeckt.
Sie ging durch die Hauptstraße über die Brücke zu der U-Bahn-Station. Sie stieg die Treppen nach unten und in die Bahn Richtung Weidembach und ich ging hinterher. Ich setzte mich so, dass ich genug Abstand hielt, sie aber beobachten konnte. Sie wirkte ganz normal, tippte auf einem alten Smartphone herum, kramte ab und an in ihrer Tasche. Nichts was sie in irgendeiner Weise unterscheiden würde. Wieder ein starrer Moment. 19:50:12. In meinem Innern liefen die Sekunden weiter. Eine, zwei. Dann alles wieder in Bewegung. Sie tat auch in dieser Zeit (oder Nichtzeit) nichts besonderes, sondern hatte einfach mit ihrem Smartphone weitergemacht.
Ich entschied mich schließlich dafür, mich zu ihr zu setzen, als wir eine weitere Station passierten. "Sie können sich auch in der Zeit bewegen", sagte ich irgendwann – wie nebenbei. Sie runzelte die Stirn. "Klar. Hast du wen gefunden?" Sie sagte das auf eine so selbstverständliche Art, dass ich vollkommen verwirrt war. Sie bemerkte meinen Blick. "Warten Sie … Sie sind einer von denen, die wir suchen. Ich dachte nicht…" "Suchen? Wofür suchen?“ "Um Sie wegzubringen, natürlich." Sie lächelte und griff nach meiner Hand. Entgeistert versuchte ich meine Hand aus ihrer zu lösen, aber ihr Griff war fest. Schließlich riss ich mich los, stand auf und lief von ihr weg. "Bleib hier", rief sie, stand auf und lief mir hinterher. Diese Verrückte sollte mir nicht zu nahe kommen und ich hoffte einfach nur, dass die Bahn bald halten würde. Ich war fast am Ende des Wagens angelangt, als die U-Bahn endlich hielt.
Die Frau folgte mir nicht mehr, sondern stand mit einigem Abstand zu mir und starrte mich an. Die mechanischen Türen öffneten sich und ich wollte mich durch die Menschenmasse quetschen, die draußen wartete, doch plötzlich wurde ich festgehalten. Mehrere Männer und Frauen griffen nach meinem Arm, hielten mich fest. Erst dachte ich, dass jemand mich gestreift hatte, aber die Leute griffen nach mir und starrten mich allesamt direkt an.
Doch ich schaffte es mich loszureißen, rief laut nach Hilfe und rannte atemlos weiter. Niemand kam mir zur Hilfe.
Ich hastete die Stufen der U-Bahnstation hoch, spürte die Verfolger in meinem Nacken. Den letzten Meter zog ich mich am Geländer hoch, sprang über die letzte Stufe und rannte über die Straße, ohne auf die Ampel zu warten. Ich kam heil über die Straße und verschwand in einer Seitengasse. Es fühlte sich an, als würde meine Lunge zerreißen, aber ich hörte nicht auf ehe ich mir sicher war, dass sie verschwunden waren.
Ich lehnte mich an eine kalte Steinmauer im Schatten und atmete erst einmal tief durch, wartete darauf, dass sich mein Herzschlag beruhigte. Dass ich über die Straße heil gekommen war, machte mir plötzlich Angst. Die Straße war doch stark befahren. War die Zeit stillgestanden? Ich blickte zur nächsten Uhr, die ich ausmachen konnte. Zwei Minuten! Verdammt noch einmal zwei Minuten! Aber so viele hatten sich bewegt? Waren sie alle Teil von dieser Gruppe?
Es dauerte lange bis ich mich beruhigt hatte und mich vorsichtig wieder aus meinem „Versteck“ heraus traute. Niemand war zu sehen.
Ich nahm den nächsten Bus nach Hause. Als ich in meine Zweizimmerwohnung zurückkehrte und meine Sachen aus meinen Taschen auf die Kommode legen wollte, fiel mir auf, dass meine Geldbörse fehlte. Auch das noch. Ich durchsuchte meine Taschen und fand lediglich ein paar Münzen, also ließ ich von der Kommode ab und ging in mein Schlafzimmer – vielleicht lag sie irgendwo dort.
Erst bemerkte ich es nur im Augenwinkel, doch dann sah ich genauer hin. Durch das Fenster sah ich, wie mich ein Mann anstarrte. Langsam schritt ich zurück und sah wie der Mann nun auf die Eingangstür zuging. Ich musste verschwinden, bevor er die Tür erreichte. Einfach weg aus der Wohnung. Aus der Haustür heraus, der Mann keine 20 Meter entfernt. Ich konnte dem Mann gerade so entwischen, wechselte immer wieder die Straße und Straßenseite. Ich atmete einen Marathon, bevor ich, gestützt an eine schlechtverputzte Wand, verschnaufte und überlegte.
Ich hatte kein Geld. Keine besonders guten Freunde. Was blieb dann noch?
Ich entschied mich zur Polizei zu gehen, auch wenn ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Die Station war nicht weit entfernt. Nach einer knappen Minute kam sie in Sichtweite. Ich ging hinein und sprach mit einem jungen Beamten und versuchte meine Lage zu erklären. Ich erzählte nur, dass ich verfolgt wurde. "Kommen Sie mit, wir klären das am besten in einem Nebenzimmer", meinte der Beamte und ich folgte ihm. Wir schlängelten uns an Männern und Frauen vorbei und als der Beamte gerade durch eine Tür in einen anderen Raum schritt, stand die Zeit wieder still. Ich sah, dass der Beamte vor mir erstarrte, aber ein anderer bewegte sich, wie ich im Augenwinkel sah. Zu hundert Prozent war ich mir nicht sicher, wollte mich aber nicht verraten, in dem ich mich selbst bewegte. Ich spürte, dass jemand näher kam, sah wie die Person an mir vorbeilief. Nicht atmen, keine Regung. Dann setzte sich die Welt wieder in Bewegung. Ich verabschiedete mich eilig von dem Beamten und verließ das Präsidium wieder. Den Rest der Nacht verbrachte ich damit durch die Stadt zu laufen und ab und an stehenzubleiben. Sonst nichts. Laufen. Stehenbleiben. Es wurde häufiger und länger. Nach Hause konnte ich nicht.
Als der nächste Tag anbrach, spürte ich wie müde mein Körper mittlerweile war.
Ich sah zu wie die Stadt erwachte.
Die ersten Läden wurden geöffnet, der Verkehr nahm zu, die großen Reklametafeln wurden eingeschaltet. Ich sah ein Bild einer Frau auf der Reklametafel. Darunter ein Schriftzug: "LAURA WEISS KOMMEN SIE UM 16 UHR ZUM MAIK-WECHSLER-PLATZ". Das Bild wechselte zu einem älteren Mann. Ein anderer Name, aber die Aussage war dieselbe. Und dann ein Bild von mir. Selbe Aussage. Mein Herzschlag schien aus dem Takt zu geraten. Irgendjemand wollte mich fertigmachen. Irgendjemand kannte und verfolgte mich. Und dann dachte ich an meinen Sohn.
Ich lief zum nächsten Taxi, stieg ein und ließ mich zu meiner Exfrau fahren. Jemand wollte mich fertigmachen – da würden sie vor meiner Familie nicht halt machen. Es dauerte eine knappe halbe Stunde, bis ich den Stadtteil erreichte. Ich war nervös, weil ich kein Geld hatte, aber das war egal. Ich kramte in meinen Taschen und suchte nach etwas dass ich im Taxi liegenlassen konnte, aber fand nichts. "Halten Sie bitte hier", sagte ich und als der Wagen noch nicht ganz stillstand, stieg ich ungelenk aus und lief los. Der Taxifahrer sagte kein Wort und auch mein Blick nach hinten zeigte mir, dass er mir nicht nachrannte. Er telefonierte - wahrscheinlich mit der Polizei. Ich war sicher nicht der erste.
Ich wechselte die Straße ein paar Mal, bevor ich die Wohnung von meiner Exfrau ansteuerte. Es war ein Vorort und die Reihenhäuser glichen einander aufs Haar.
Noch war niemand von ihnen da. Früh genug. Ich klingelte. "Wer ist da?", tönte es aus der Gegensprechanlage. „Hey, ich bin's.“ "Oliver? Deine Zeit mit Tom ist erst nächste Woche." "Ich weiß, kann ich Tom nur kurz sehen?" Im Hintergrund hörte ich eine Männerstimme. Ein kurzes Gespräch, aber ich verstand nichts. "Ich will ihn doch nur kurz sehen – Sandra, bitte." "Was ist los Oliver?" "Ist nicht wichtig, ich will doch nur kurz meinen Sohn sehen." "Fünf Minuten, ok?" "In Ordnung." Ein Summen ertönte und ich drückte die Tür auf. Ich stieg die Stufen des Reihenhauses nach oben und ging zu der Wohnung. Ich begrüßte knapp einen Mann, den ich nicht kannte und meine Ex. "Wo ist er?" "Er ist in seinem Zimmer - wir wollten in 20 Minuten eigentlich los zum Kindergarten." "Gib mir nur ein paar Minuten bitte." Sie nickte. Ich ging in das Zimmer und dieses Mal hoffte ich wirklich auf einen Zeitstopp. Doch es kam keiner. "Hey Tommy", sagte ich leise und er lächelte mich an. Er spielte gerade mit seinem Puppenhaus. Ich hob ihn hoch, setzte ihn auf meinen Arm. Sandra stand noch in der Tür und schaute mir über die Schulter. Der Typ war anscheinend in ein anderes Zimmer gegangen. Ich ging mit Tom auf dem Arm näher zu Sandra. "Meinst du, ich kann ihn zum Kindergarten bringen?", fragte ich. "Zum Kindergarten?" "Ja, ich fände das wirklich schön. Es ist irgendwie seltsam nichts mit seinem Alltag zu tun zu haben." "Willst du jetzt jede Woche vorbeikommen oder was?" "Nein, nur einmal." Sie war unsicher. Ich trug Tom an ihr vorbei in den Flur. "Ich will ihm nur schon einmal die Schuhe anziehen." Und das tat ich auch, während sie immer noch unschlüssig zu sein schien. "Ich weiß nicht Oliver..." "Kein Problem ich mach das heute", sagte ich einfach, machte die Tür auf und ging nach draußen. Sie hielt mich nicht auf. Ich hatte meinen Sohn ja nicht entführt oder sonstiges, sondern war einfach etwas dreist gewesen. Hoffentlich würde ihr nicht auffallen, dass ich gar nicht wusste, wo sein Kindergarten war.
Ich stieg in den nächsten Bus und fuhr mit der U-Bahn weiter. Auf meinem Arm war Tom eingeschlafen. In dieser Stadt lief irgendetwas schief. Ich würde im Bahnhof in den nächsten Zug steigen, einige Stunden fahren und irgendwo aussteigen und mich verstecken bis dieser ganze Spuk sich aufklären würde. Um zu den Fernzügen zu kommen, müsste ich nach oben. Ich hatte Angst, dass in anderen Städten dasselbe Problem wäre, aber es würde sich alles aufklären, da war ich mir sicher. Ich war gerade in der Vorhalle, als die Zeit wieder anhielt. Ich hielt still, aber Tom wachte auf. Er hatte auch diese Fähigkeit? Er bewegte sich und sah mich an, nuschelte etwas. Ich sah ihn an und wurde nervös und schließlich sah tatsächlich einer der Bewegenden, dass mein Sohn nicht eingefroren war. Ich schaltete direkt und rannte los. "Warten Sie", wurde uns noch hinterhergerufen. Ich musste Tom in Sicherheit bringen. Ich rannte durch die Halle, bog ab zu den Schließfächern und setzte ihn in eines der Fächer, warf Geld ein, schloss es zu und zog den Schlüssel. Ich würde meine ganze Bewegungsfreiheit brauchen. Direkt lief ich wieder los, um nicht zu verraten in welchem Schließfach mein Sohn versteckt war. Ich wollte mich diesen Wichsern stellen – ich verließ den Raum mit den Schließfächern, trat in die Haupthalle des Bahnhofs und sah mich drei Männern entgegen "Verpisst euch!" Einer kam auf mich zu und ich wollte mich gerade vorbereiten, doch plötzlich wurde ich von der Seite von einer Frau berührt. Ich riss mich los. "Bleiben Sie stehen!", rief einer der Männer. Ich rannte die Treppe zu den U-Bahnhaltestellen herunter. Bloß von meinem Sohn ablenken. Doch dort standen wieder Leute. Einer hatte ein Metallobjekt in der Hand, was ich nicht identifizieren konnte. Weitere zogen glänzenden Stahl hervor. Sie zielten auf mich und keine Sekunde später war alles schwarz.

Es wurde von einem Blitz gesprochen; dass sagen zumindest die anderen. Die Zeit sei lange stillgestanden. Es soll nicht nur einen Blitz gegeben haben sondern tausende, überall.
Wo ich bin, weiß ich nicht. Und ich weiß auch nicht, was mit der Welt passiert ist. Sie wollen uns nichts böses. Sie sprechen von Potentialen in uns.
Aber das einzige, was ich spüre, ist der Schlüssel des Schließfachs in meiner Tasche, der jede Minute schwerer wiegt.
 
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Pumuckel14

Die Leseratte, die gerne spricht ...
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Ich finde deine Geschichten sehr spannend ! Aber der Junge tut mir trotzdem leid ... :D
 

KlausInTheHouse

Stay a while and listen
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Bei dem Ende bräuchte man fast schon ne content Warnung.
Ok ich bin etwas hin und her gerissen. Ich finde es insgesamt sehr spannend auch vom Konzept her, aber über ein paar Sachen bin ich etwas gestolpert.
Bevor ich das aber schreibe, ich bin kein Kunstkritiker, das ist also nur meine persönliche Wahrnehmung und Meinung, außerdem klingt ich vielleicht überkritisch, das ist nur meine Art, mir hat es wirklich gut gefallen, würde auch mehr davon lesen.
Also zu meinen stolpersteinen:

1. mittendrin kommt das f-Wort als Beleidigung das heraussticht wie ein wunder Daumen. Der Protagonist formuliert die ganze Zeit sehr gehoben und da kommt es etwas aus dem nichts, vor allem da es innerer monolog ist. Ich hätte es eher als entsetzte Reaktion nachvollziehen können als einen zufälligen Gedanken.

2. während der Verfolgung fühlte sich der schreibstil etwas zu langatmig an, er passte extrem gut für den spannungsaufbau in dem mysteriösen Teil doch dann fühlte es sich… nicht hektisch genug an? Ich weiß nicht ob ich gut beschreiben kann wie sich das angefühlt hat.

3. das Ende empfinde ich etwas als ein Schlag ins Gesicht, ich finde das grundkonzept spannend genug das man nicht unbedingt auf dieses Drama zugreifen müsste, allerdings bin ich hier vielleicht auch überempfindlich als Vater eines kleinen Kindes. Die Vorstellung beklemmt mich einfach.

4. Abgesehen von dem Jungen hätte ich es auch vorgezogen wenn das Ende weniger eindeutig übernatürlich wäre. Bis zum letzten Absatz hatte ich mich gefragt „ist der Mann psychisch krank oder ist es was übernatürliches“ der letzte Absatz scheint zumindest deutlicher zu machen wohin es geht. Das hängt aber natürlich auch davon ab ob das ein ganzes Buch werden soll oder so eine fertige Kurzgeschichte ist.


Insgesamt muss ich aber sagen, sehr beeindruckend, hat mich gefesselt, den Grundaufbau finde ich wie gesagt sehr spannend und auch wie set Hauptcharakter damit umgeht sehr faszinierend und (hauptsächlich) nachvollziehbar.
Würdest du ein ganzes Buch daraus machen könnte ich mir gut vorstellen es zu lesen.
🙂
 
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Chaos

Schneewittchen
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Fand ich auch super erzählt! Das Ende fuckt mich mehr ab als das Zeitstoppen, uff
 

Peter Nerlich

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Du hast packend angefangen, dich gesteigert und unheimlich stark geendet. Ich finde die wiederholten Erwähnungen von Zeitspannen hier besonders magisch. Vielleicht könnte man Sachen wie "es dauerte eine knappe halbe Stunde" auch als "es dauerte knapp 27 Minuten und 34 Sekunden" formulieren, um auch im weiteren Textverlauf zu untermauern, dass er schon sein ganzes Leben gewohnt ist, Zeit exakt wahrzunehmen. Vielleicht hast du dich aber längst dagegen entschieden, weil es ein ungewohnter und vielleicht auf Dauer störender Textfluss wäre.
 

MonacoSteve

Dipl.-Lachfalter - und nicht ganz Dichter
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Die Idee für diesen Plot ist interessant, auch wenn für mich sehr viele Fragen offen bleiben. Einiges hat Klaus auch schon zusammengefasst. Und dazu auch gleich eine weitere Inkonsistenz: In der U-Bahn und fürs Taxi hat der Protagonist keinerlei Geld mehr. Für das Schließfach plötzlich doch wieder?
 

Pumuckel14

Die Leseratte, die gerne spricht ...
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Stimmt darüber bin ich auch gestolpert mit dem Geld für das Schließfach
 

SeGreeeen

Kaaaaarakaluuuuuuuhhhh!!!!
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Bin vor allem über das F***e gestolpert, das kam unerwartet und hat den Lesefluss etwas gestört. Generell finde ich die Geschichte gut geschrieben. Das Ende hat mir leider ein bisschen zu viel verraten, aber doch nicht genug, dass ich damit zufrieden wäre. Irgendwie hätte ich entweder eine komplette Erklärung für alles erwartet oder komplett ein offenes Ende, bei dem man auch nichts über "sie" erfährt. Aber dennoch sehr schöne Story!
 

Melana

schreibt, liest, spricht & cuttet jetzt auch noch
........Zeitspannen hier besonders magisch. Vielleicht könnte man Sachen wie "es dauerte eine knappe halbe Stunde" auch als "es dauerte knapp 27 Minuten und 34 Sekunden" formulieren, um auch im weiteren Textverlauf zu untermauern, dass er schon sein ganzes Leben gewohnt ist, .........
ehm sorry wenn ich jetzt hier einklinke - aaaaaber...

;)

entweder es dauert knapp 30 Minuten - oder eben exakt 27 Minuten und 34 Sekunden.. Weil knapp 27 Minuten und 34 Sekunden - ehm ja.. geht nunmal nicht wenn man eine genaue zeit angiebt und diese aber zu revidieren versucht mit dem vagen "knapp"

LG
 

Peter Nerlich

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knapp 27 Minuten und 34 Sekunden - ehm ja.. geht nunmal nicht wenn man eine genaue zeit angiebt und diese aber zu revidieren versucht mit dem vagen "knapp"
Das finde ich ja gerade das Spannende an der Idee. Klar, für uns ist das widersinnig, eine auf die Sekunde genaue Angabe zu machen und zu sagen, dass es "knapp" diese Zeitspanne gedauert hat. Aber der Protagonist hat eine ganz andere Erfahrungswelt. Er hat sich eine Uhr gekauft und sich schlussendlich nur skeptisch mit einem Modell zufrieden gegeben, dass weniger als eine hundertstel Sekunde Abweichung versprach. Für ihn wären "knapp 27 Minuten und 34 Sekunden" eine Fülle von möglichen gemeinten Zeitspannen, zwischen 00:27:33.001 und 00:27:33.999 Sekunden (vielleicht sogar noch präziser).
 

Chaos

Schneewittchen
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Glaube, ich finde offenes Ende hier tatsächlich passender. Also, ich glaube, es braucht den letzten Absatz einfach nicht für die Story.
Wegen des Geldes würde ja schon 1 Satz irgendwo reichen, dass er nur Kleingeld in den Taschen findet, als er seine Geldbörse sucht.
 

PeBu34

Mitglied
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Hallo @A. Weltenbruch,

ich fand die Geschichte sehr spannende und habe - wie bei mir üblich - beim ersten Lesen kaum auf Fehler geachtet. Was mich jedoch massiv gestört hat, ist dass der Protagonist sein Kind in ein Schließfach einsperrt.

Gut, der Mann ist panisch und er denkt vielleicht auch "ich hole ihn ja gleich wieder raus!". Abgesehen davon, dass selbst ein großes Schließfach sehr eng für ein Kind ist, sollte er aber doch so weit denken, dass sein Kind vielleicht erstickt. (Wahrscheinlich ist das aber für diese Geschichte zu logisch gedacht...)

Liebe Grüße von
Peter :)
 

A. Weltenbruch

Mitglied
Danke für das rege Feedback an alle!

@KlausInTheHouse - Fotze ist gestrichen, Satz, dass er noch eine Münze so in der Hose hat hinzugefügt. Gar nicht drüber nachgedacht. Bin auch noch nicht 100% damit zufrieden, weil's konstruierter ist.
Das mit dem unangenehmen Gefühl kann ich verstehen, auch wenn ich denke, dass Literatur etwas Stärkeres in einem auslösen kann (manche gehen soweit, dass sie das muss, aber das wäre mir zu weit).

Ist als fertige Geschichte gedacht, aber vielen Dank fürs Lob!

dass sein Kind vielleicht erstickt.

Uh das kommt immer aufs Schließfach an, aber die alten Teile haben in der Regel zumindest bisschen Luftzufuhr, weil sie nicht ganz dicht sind. Moderne sehr sichere Schließfächer wären da schlimmer.

@Peter Nerlich Ich glaube auch, dass das irgendwann umständlich zu lesen wäre, auch wenn's passen würde!
 

Nanami

Es sind heute viele Leute in Versailles
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Ich liebe diese Skizzen, die alles anregen und alles offen lassen.
Dass sich so viele an der Schließfachsache stören, ist doch ein Kompliment an die Geschichte: Obwohl alles so unblutig ist, geht es einem trotzdem so nahe. Ich denke mir einfach, dass das Schließfach in dem Fall etwas Sicheres ist.
Die Änderungswünsche der Kommentatoren finde ich herrlich intrusiv xD
Also mir ist ja das Puppenhaus sauer aufgestoßen. Gut, dass er den Kleinen von der Sandra weggeholt hat. :p

Das hier: "Hoffentlich würde ihr nicht auffallen, dass ich gar nicht wusste, wo sein Kindergarten war." war für mich die ergreifendste Stelle.
 

NinaBLNuCH

Die Berlinerin in der Schweiz
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Mega Story, es ist mitten in der Nacht und ich bin voll gefesselt (im übertragenen Sinn, also von der Geschichte 😵‍💫)
Dachte die ganze Zeit ich wäre auf der richtigen Fährte à la; jetzt kommt gleich die Auflösung dass er eine Psychose oder so hat (Beautiful Mind), aber dann kam das Ende für mich doch eher etwas offen rüber . Trotzdem: packende Geschichte 👍
 
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