• Blut-Tetralogie   Dark Space
Hallo ihr Hörspiel-Häschen,

gerade werfe ich mal wieder einen Auszug aus meinen Slamtexten auf meine Website (die sich über Besuch freut ;) und ich dachte, den möchte ich euch nicht vorenthalten. Er erzählt Erinnerungen meiner geliebten Oma, die mittlerweile vom Himmel aus zusieht.
Wenn sich jemand berufen fühlt, diese Worte einzulesen, freue ich mich auf das Ergebnis. Da, der Text natürlich vom Vortragen lebt. Das Wort "sie", "ihr" usw. beziehen sich immer auf Oma.

Wenn niemand versteht
Nach wahren Begebenheiten

1. Vier Jahre

Sie ist vier.
Sie ist vier und sie versteht es nicht.
Und die Bomben, die fallen.
Und die Bomben, die treffen.
Und die Sirenen, die heulen.
Und sie läuft, die Mutter, die sie am Arm zerrt.
Sie und ihre große Schwester.
Und sie laufen. Eine Mutter, sieben Kinder und ein Dorf.
Und da ist ein Bauer mit einem Fuhrwerk und seinem Pferd auf dem Weg.
Und der Bauer, der blickt stur geradeaus.
Und sie laufen weiter.
Und die Tür, die öffnet sich und die Tür, die schließt sich.
Sie ist vier und sie versteht es nicht.
Und sie sind im Luftschutzkeller und es ist dunkel und sie sind still.
Und sie sind hier zusammen, zusammen mit der Angst.
Und ein Pfiff, ein hoher Ton, der die Stille durchbricht und die Gebete in den Köpfen.
Und es kracht und der Raum, der bebt.
Sie ist vier und sie ist neugierig, will wissen, was da los ist.
Und sie schleicht sich davon und die Tür, die Tür die öffnet sich und schließt sich hinter ihr.
Und sie steht da und am Himmel sind Flugzeuge, so weit oben und sie lassen Dinge fallen.
Und die Dinge sie fallen über ihr.
Und es trifft.
Und dann tut es weh.
Die Ohrfeige ihrer Mutter auf der Wange.
Und die Tür, die Tür sie öffnet sich und schließt sich und sie sind wieder im Luftschutzkeller.
Und es kracht.
Und dann ist es vorbei.
Niemand schreit mehr, niemand weint mehr, niemand betet mehr.
Und es ist vorbei.
Ihre Kindheit und der Angriff.
Aber sie leben.
Sie die da in diesem Bunker waren, sie leben.
Und die Tür die öffnet sich und schließt sich und die Menschen gehen nach Hause.
Und da ist ein Bauer mit seinem Fuhrwerk und seinem Pferd auf dem Weg.
Und der Bauer blickt blind geradeaus.
Und das Pferd liegt auf der Straße und das Fuhrwerk blockiert den Weg.
Und die Toten, sie liegen da.
Mahnen.
Und die Bomben, die fallen.
Und die Bomben, die treffen.
Und der Bauer wird beerdigt, verscharrt.
Denn die Bomben, die fallen.
Und die Bomben, die treffen.
Und da sind ein Fuhrwerk und ein Pferd auf der Straße.
Und da sind Menschen, die laufen zwischen dem Luftschutzbunker und der Angst.
Und da sind Menschen, die laufen dem Tod entgegen und dem Tod davon.
Und da sind Menschen.
Und da sind Mütter, die weinen.
Und da sind Väter, die Sterben.
Und sie ist vier.
Und es ist 1944.
Und es ist Krieg.
Und sie versteht es nicht.

2. Hannelore

Hannelore ist ihre Nichte.
Sie ist das jüngste Mädchen der Familie.
Hannelore ist wie ihre kleine Schwester.
Hannelore ist fünf.
Sie hütet das Kind und passt auf es auf und sie liebt es.
Sie liebt Hannelore. Und Hannelore liebt sie.
Und sie spielt mit Hannelore mit den Dingen, die der Krieg ihnen gelassen hat.
Und Hannelore ist ein wunderschönes Kind. Große Augen, langes schwarzes glattes Haar.
Und Hannelore ist fünf. Und glücklich und gesund.
Und dann kommt die Nacht.
Und am Morgen ist Hannelore krank.
Hannelore hat Fieber, atmet schwer.
Hannelore geht es schlecht, aber Hannelore ist tapfer, weint nicht.
Große Augen, blicken. Stumm in der Welt. Lange schwarze Haare liegen wirr auf dem Kissen.
Der Morgen kommt und man holt Hannelore ab.
Man trägt das Kind davon, zum Arzt und so lange sie lebte, sieht sie die langen schwarzen Haare, die im Wind wehen.
Noch atmet Hannelore.
Ein.
Aus.
Ein.
Aus.
Ein.
Aus.
Und die Tränen rinnen ihre Wangen hinab.
Und ich weiß nicht mehr, wer von beiden wusste, dass Hannelore nicht wiederkommen würde.
Und Hannelore war fünf.
Und Hannelore verstand es nicht.
Und Hannelore hat den Krieg überlebt.
Sie starb an Polio.

3. Sieben Kinder

Sieben Kinder.
Eine Mutter.
Drei Töchter.
Vier Söhne.
Sie ist elf.
Der Vater ist tot.
Nicht im Krieg gestorben, doch der Krieg hat ihn umgebracht.
Es gibt nur ein Bild von ihm.
Sieben Kinder.
Eine Mutter.
Acht Teller.
Ein Topf voll Hunger.
Eine Hand voll Essensmarken.
Sie gehen zu den Bauern.
Kartoffeln nachgraben.
Sie gehen zu den Reichen.
Äpfel vom Baum stehlen.
Sie gehen in die Wälder.
Feuerholz finden, dass es nicht gibt.
Äste abbrechen ist verboten.
Sie ist ein kleines Mädchen und trägt einen Korb voller Scheite.
Sie gehen schlafen.
Ein Raum.
Sieben Kinder.
Das Jüngste geboren.
Das Älteste 18.
Sieben Kinder.
Eine Mutter.
Acht Teller.
Ein Topf voll Kartoffeln.
Das verstehen sie.
Sie haben Hunger, weil es nichts zum Essen gibt.

4. Spiegel

Und da ist ein Bild.
Eine Schulklasse.
Schwarz auf weiß und weiß auf schwarz.
41 Kinder.
41 Lächeln
41 Schicksale
Eine Lehrerin
Eine Wiese.
Ein Jahr.
1948.
Und auf dem Bild ist sie und hält sich mit ihren Klassenkameraden an der Hand.
Und ich blicke in die Vergangenheit und die Gegenwart.
Doch die Bomben, die fielen.
Und die Bomben, die fallen.
Und die Bomben, die trafen.
Und die Bomben, die treffen.
Und die Krankheit heißt nicht mehr Polio, sondern Ebola.
Und die Kinder die verstehen es nicht.
Wissen nur dass sie Hunger haben.
Und da sind Mütter, die weinen.
Und da sind Väter, die sterben.
Und ein Land ist glücklich und gesund.
Und dann kommt die Nacht.
Und die Bomben, sie fallen.
Und die Bomben, sie treffen.
Und die Krankheit heißt nicht mehr Polio, sondern AIDS.
Und die Menschen, die laufen dem Tod davon und dem Tod entgegen.
Und da sind Menschen, die fliehen aus ihrer Heimat.
Und die Kinder die verstehen es nicht.
Wissen nur, dass sie Hunger haben.
Und da sind Mütter, die weinen.
Und da sind Väter, die sterben.
Nur eben wo anders.
Und es ist 2019.
Und ich, ich verstehe es nicht.
Denn wir, wir haben es scheinbar immer noch nicht verstanden.
Ich habe diesen Text damals vom beschriebenen Bild ispiriert geschrieben. Meine Hände steckten in Schokokuchenteig, als das Telefon klingelte und meine Mama anrief, sie hätte da im Internet ein altes Klassenfoto von Oma gesehen. Und als ich, mit meinen Schokohänden, meiner unendlich geliebten Oma in ihren Augen auf diesem Bild blickte, wurde mir das Herz so schwer. Dieses kleine Mädchen, dieser Moment, der direkt verknüpft ist mit der alten Dame, die die Mutter meiner Mama und meine Oma ist. Ein unschuldiges Herz und eine reife Frau. Dieses Foto war pure Paradoxie. So viel Leben, dass im Moment der Aufnahme noch vor diesem Menschen lag, dessen Ende schon das Jahr 2017 eingeleited hatte. Und so viele Geschichten, die nun für immer schweigen. Und ich wusste um die Armut, in der sie aufwuchs und um die Geschichten des Kriegs.
Doch von Schriftsteller*innen geliebt zu werden, heißt für immer zu leben.
Möge meine Oma in Frieden ruhen und ich bete zu Gott, das sie ist stoz auf mich ist. Das sie sich daran erfreut mir zuzusehen, wie auch ich mein Lebensbuch schreibe, auf der Wolke, auf der sie sicherlich sitzt.
 
@Lady_Di oh wow! Ich danke dir. Wie schön. Aber tatsächlich ist all das EINE Geschichte. Alle vier Teile. Das Mädchen in dem Text, dass immer mit "Sie" umschrieben wird, ist meine Omi und alles was da geschrieben steht ist nach wahren Begebenheiten.
@Gerrit Kock sehr gerne lies so viel und wenig ein wie du möchtest. Ich habe da in der Gedichteabteilung auch noch diverse Gedichte rumliegen, die noch kein Feedback bekommen haben, vielleicht findest du auch da etwas.
Der liebe @PeBu34 ist mein treuer Kommentator und eines Tages habe ich meine ganze Sammlung an Slamtexten in den Hoertalk geworfen, sodass er nicht mit kommentieren hinterherkam.
<3 <3 <3
 

Chaos

Schneewittchen
Teammitglied
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Gerade las ich zum ersten Mal deinen Text, @Ann Katharina Re. Er berührte mich sehr und machte mich ziemlich traurig und betroffen.

Im Folgenden einige kurze Kommentare zu meinen Lieblingsstellen:

Und es ist vorbei.
Ihre Kindheit und der Angriff.
Sehr sehr gut, wie du dem Leser in dieser Einfachheit die Bedeutungsschwere der Aussage entgegenschleuderst. Die Bedeutung fällt auch hinab wie eine Bombe und sie trifft und schlägt ein, mitten in den wunden Punkt.

Hannelore geht es schlecht, aber Hannelore ist tapfer, weint nicht.
Große Augen, blicken. Stumm in der Welt. Lange schwarze Haare liegen wirr auf dem Kissen.
Der Morgen kommt und man holt Hannelore ab.
Man trägt das Kind davon, zum Arzt und so lange sie lebte, sieht sie die langen schwarzen Haare, die im Wind wehen.
Noch atmet Hannelore.
Puuuuuh, die schwarzen wehenden Haare, ein Kind, das stirbt, aber nicht weint, um tapfer zu sein - so ein unfassbar starkes, eindrückliches Bild. Es schmerzt.

Ein Topf voll Kartoffeln.
Das verstehen sie.
Sie haben Hunger, weil es nichts zum Essen gibt.

Und auf dem Bild ist sie und hält sich mit ihren Klassenkameraden an der Hand.
Und ich blicke in die Vergangenheit und die Gegenwart.
Doch die Bomben, die fielen.
Und die Bomben, die fallen.
Hier mag ich, wie du die Zeitform ins Spiel gebracht hast, zum richtigen Augenblick

Und es ist 2019.
Und ich, ich verstehe es nicht.
Ich auch nicht, Ann, ich auch nicht.

Ein paar stilistische Anmerkungen, zu Dingen, die ich erzähltechnisch vielleicht anders gemacht oder interessant gefunden hätte

1) UND als Bindeglied
In deinem Text wimmelt es von UND's. Was ich einerseits passend finde, weil es einen Wortstrom erzeugt, der nicht abreißt und einen mitreißt und irgendwie auch dazu passt, dass da Dinge mit Menschen passieren, die nicht in ihrer Macht stehen, die aber dennoch ihr Leben für immer verändern. Andererseits frage ich mich, ob bestimmte Passagen noch mehr einschlügen, wenn du das UND weglassen würdest.
Zum Beispiel hier:
Und die Bomben, die fallen.
Und die Bomben, die treffen.
Und die Sirenen, die heulen.

2) ZAHLEN als Stilmittel
Du nennst oft Anzahlen, Alter, etc und ich finde das sehr eindrücklich und interessant. Ich fragte mich, ob man damit stilistisch noch mehr spielen könnte, den Zahlen noch mehr Meta-Ebene einräumen könnte. Zahlen, die aufeinander aufbauen (besonders gut gefallen hat mir nämlich zB, dass in 1) SIE 4 Jahre alt ist und in 2) Hannelore 5. Was wäre die Bedeutung der 6?). Da das Ganze aber auf einem wahren Geschehen basiert, bleibt das vielleicht aber auch einfach ein rein hypothetisches Gedankenspiel.

Insgesamt ein sehr eindrücklicher Text, der mich ziemlich berührt hat. Danke dafür. Das Thema wird immer aktuell bleiben, es wird immer schmerzen und Texte wie diese bohren sich in uns hinein wie in eine alte Wunde, über die Narbengewebe gewachsen ist. Eine dünne und verletzliche Haut, die aufreißt, wenn wir sie nicht pflegen. Die jetzige Zeit reißt diese alten Wunden auf.

Danke für deinen Text, ich bin sicher, deine Omi wäre stolz auf dich, wenn sie es noch sein könnte.
 
Ach @Chaos, du Liebe. Ich freue mich so, dass du dir die Zeit genommen hast, all das zu schreiben. Vielen Dank für deine Kritik und deine Komplimente. Ich überlege sowieso aktuell wegen Corona, dass mich von Slambühnen weghält, meine Text einzusprechen. Maiko, (verlixt, wie ist sein Forenname) hatte da schon was für mich organiesiert. Ob das wohl etwas wäre?
 

Chaos

Schneewittchen
Teammitglied
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Maiko, (verlixt, wie ist sein Forenname) hatte da schon was für mich organiesiert. Ob das wohl etwas wäre?
@maoru, oder nicht? :)

Ich würds super finden. Ich schreib ja jetzt schon seit ... uff... fast 3 Jahren relativ aktiv Lyrik und merke selbst immer wieder, welche Wucht die Worte im Gesprochenen noch einmal dazubekommen. Und - bei Lyrik irgendwie besonders faszinierend - die Art, einen lyrischen Text zu lesen, unterscheidet sich zum Teil von Person zu Person echt massiv. Also, ran da :3
 
So @Chaos nochmal ausführlich. Danke nochmal, dass du dich dem Text öffnen konntest. :)

Und du bist ebenfalls eine kleine Wortakrobatin. Wo finde ich deine Texte? ;)

Bezüglich Hannelore (Name nicht geändert) war genau dieses Bild das, welches auch Oma noch so lange nachgehangen war. Sie beschrieb es genau so: "Iich siech heit nuch, dia longa schwatzn Hoar." :( Oma sieht es zwar nun nicht mehr, aber das Bild bleibt noch länger auf dieser Welt. Mir hing es auch lange nach. :(

Und es ist 2020. Und wann wird das Jahr kommen, da wir es endlich verstehen werden.

Tja, die 6. Ich befürchte irgendwann werde ich sagen können. Und seit 6 Jahren ist sie nun tot. Doch ich befürchte, dieser Text wird noch immer aktuell sein. Doch ich hoffe, dass ich diese Zahl nie werde anführen müssen. Oma starb 2017.

Danke, das du sagst, Omi wäre stolz. Omi war immer stolz. Auf alles. Sie war die befangenste und liebenste Omi. Auch wenn ich zwei Omas kennen lernen durfte. Meine Omi Elfi, wird immer nur Oma für mich sein und die andere ist Oma Inge. Sie wird immer Oma Inge sein. Oma brauchte keinen Namensanhang, denn sie war der Inbegriff dessen, was ich mir unter einer Oma vorstelle. Oma Inge braucht das, denn sie ist mir Mutter meines Vaters, denn Oma. Sie ist nicht die Frau, die mein Herz Oma nennen möchte.
Omas Tod hängt mir noch immer tief nach. Wahrscheinlich werde ich noch weinen, wenn ich selbst Oma bin. Wie sagte Oma früher am Grab ihrer Mutter: "Und wenn ich sa mit meina Fingerla ausgrom müsst, ich däts machn."
Heiliger bimbam, ich glaube ich habe ein Leck...
 

Gerrit Petersen

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Hier der Text "Vier Jahre" Habe den Text mal gelesen: Falls er so gefällt. Ich würde den Text auch gerne veröffentlichen zum Beispiel auf meinem Instagram Account wenn ich das dürfte. Ich würde dich aus dann noch Namentlich erwähnen. Text von .... und gesprochen von mir. Würde ich cool finden weil es ein guter Slam ist und bewegt.

Vier Jahre
 
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