Dramaturgische Notwendigkeit statt normativem Lehrsatz
Ich würde diese Frage gar nicht "von oben" beantworten, also gerade nicht im Sinne von Lehrsätzen oder Faustregeln wie "Eine Haupthandlung muss 10 Seiten haben".
Funktionieren kann alles. Du kannst, in einem experimentelleren Hörspiel, auch mehrere Handlungen aneinanderreihen wie Perlen auf eine Schnur, die dann in der Gesamtschau ein großes Ganzes ergeben - und ohne dass es intellektuell verschwurbelt wird. Schau dir Arthur Schnitzlers Theaterstück 'Der Reigen' an. Da wird Ähnliches getan, und es ist (behaupte ich) für jedermann verständlich.
Aber ich würde raten, die Frage "von unten" zu lösen, d.h. aus der Geschichte selbst heraus: Du hast vermutlich Charaktere, die einen Konflikt durchleben oder eine Wandlung durchmachen. Und das will auserzählt und dramaturgisch ausgestaltet werden. Wenn du merkst, dass deine Charaktere nur im Kreis herumlaufen, immer dasselbe daherreden und die Geschichte nicht vom Fleck kommt, dann streich ihren Part zusammen. Wenn du merkst, dass deine Charaktere sprunghaft ihre Handlungsmotivation, Stimmung oder innersten Einstellungen ändern, dann weite ihren Part aus, und mach aus dem Sprung einen für den Hörer nachvollziehbaren Verlauf. Wenn du merkst, dass du zwischen zwei Szenen ein- und derselben Figur eine zeitliche Distanz benötigst, aber diese Figur nichts Wesentliches mehr zu sagen oder zu tun hat, dann füg eine Nebenhandlung ein.
Dramaturgie ist die Schnittschnelle zwischen Handlungsgeschehen und emotionalem Hörerlebnis.
Eine Handlung sollte so aufbereitet werden, dass der Hörer gut emotional mitgenommen wird:
Man kann in einer oder in zwanzig Minuten erzählen, wie der Held sich entscheidet, Schokoladeneis statt Erdbeereis zu essen.
Genauso kann man in einer oder in zwanzig Minuten erzählen, wie der Held sich entscheidet, Ehefrau und Kinder zu verlassen und mit der Frau aus dem Tätowierladen durchzubrennen.
Aber beim einen Mal ist die eine Minute dramaturgisch angemessen und die zwanzig Minuten sind eine Unterforderung des Hörers, und beim anderen Mal ist die eine Minute eine Überforderung und die zwanzig Minuten sind dramaturgisch angemessen.
Es ist also sinnvoll, die Länge einer Handlung aus den dramaturgischen Forderungen, die diese Handlung stellt, zu bestimmen - und nicht umgekehrt.
Zwei Beispiele für denkbare 60-Minuten-Hörspiele mit einer komplett unterschiedlichen Handlungsstrang-Anzahl, die trotzdem beide gut funktionieren könnten:
- 5 Personen werden vorgestellt, jede mit ihren eigenen Alltagssorgen. Die Personen werden in jeweils einem eigenen, kleinen Handlungsstrang eingeführt, der gleichwertig zu den anderen Strängen steht. In den ersten vierzig Minuten des Hörspiels laufen diese 5 Handlungsstränge unverbunden nebeneinander her, dann schließlich im letzten Drittel stranden alle 5 Personen auf derselben Party, wo sich ihre Handlungsstränge überkreuzen und es zu einer allgemeinen Auflösung kommt.
- Ein Mann legt eine Zeitbombe im obersten Stock eines Bürogebäudes. Als er das Gebäude verlassen will, bleibt er im Fahrstuhl stecken. Per Notruftaste kann der Bombenleger Kontakt zum Sicherheitsdienst herstellen, erfährt allerdings, dass sich leider erst in 3 Stunden ein Elektriker um den Fall kümmern kann - zu einem Zeitpunkt, wo die Bombe schon hochgegangen sein wird. Kann der Bombenleger den Sicherheitsdienst überzeugen, schneller jemanden zu schicken, ohne das Vorhandensein der Bombe aufzudecken? Eine solche Handlung kann evtl. das gesamte Hörspiel tragen, jede Nebenhandlung könnte hier den Spannungsbogen zerstören.
Wieviel Handlung passt also in ein Hörspiel?
Soviel wie reinpasst.
P.S.:
Beim Wiederlesen der Threadeinträge finde ich übrigens, dass Xilef weiter oben viel Bemerkenswertes geschrieben hat, was leider unterging, weil man sich über seine Wortwahl mokiert hat. Insofern bemerkenswert, als er nämlich die konkrete Ausgestaltung des Hörerlebnisses an oberste Stelle gerückt hat.
Zitat Xilef:
Ich halte das für eine sehr akademische Frage, die sich in der Praxis eher daran entscheidet, wie Skript, Regie und - vor allem - den Sprechern gelingt, das "Fest des Augenblicks" (Luc Bondy) zu feiern, also dem, was gerade zu hören ist, soviel Hörgenuss einimpfen können, dass die Frage nach dem schlüssigen Plot vielleicht und zugleich auch nur höchstens als Reflex gestellt wird und sich dann wieder hinter das akute Hörerlebnis duckt.
Ich vermute, dass Xilef damit nicht exakt das meint, was ich oben schreibe, und dennoch stimme ich zu. Meiner Ansicht nach bedeutet funktionierende Dramaturgie auch nicht zwingend 'logische Stringenz', sondern 'emotionales Mitnehmen des Rezipienten' (= Hörers, Zuschauers, Lesers)
David Lynchs Film 'Mulholland Drive' liefert bis zum Schluss keinen logisch schlüssigen Plot (sondern allenfalls Ahnungen), dennoch ist der Film dramaturgisch vollendet gestaltet, denn der Zuschauer wird von Anfang bis Ende emotional mitgenommen.