Chaos

Schneewittchen
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(geschrieben von mir. Fassung 01 {27.12.2019}. Vertonung, kritische Kommentare und Anmerkung sehr erwünscht {Eine musikalische Interpretation des Textes fände ich persönlich sehr spannend}. Viel Spaß beim Lesen!)


Ich habe der Angst
in die Augen geblickt
zwei tiefe Abgründe
sie wich erschrocken zurück

Ich habe der Angst
in die Augen geblickt
sie wand sich und rannte
Und kam nie mehr zurück

Was bleibt ist ein Brandloch
im Mantel der Nacht,
ein Nachbild, das ich
voller Stolz in mir trag.

All die Schreckensgespenster
nehmen Abstand vor mir
Nachts sind alle Schatten länger
Nur meiner bleibt leer.​



Seine Schritte stolperten im Gleichklang mit dem Herzschlag der Welt durch die milde Dezembernacht. Um ihn herum war das Leben zu hören und die Luft von Geräusch erfüllt. Da war das Rauschen der nahen Stadtautobahn, das ausgelassene Gelächter der Menschen in seiner Stammkneipe um die Ecke, schwingende Musik aus einem der umliegenden Häuser. Nur in ihm hatte sich eine eigenartige Stille breit gemacht und er hatte gehofft, sie mit einem nächtlichen Spaziergang vielleicht vertreiben zu können, damit seine Gedanken aus ihrer Starre erwachten. Also schritt er zügig durch die Nacht, um seinen Gedanken Raum zu schenken, um ein wenig frische Luft zu atmen. Ungeduldig vergrub er die Hände in den Hosentaschen, um nach dem Tabak zu suchen, den er sich vorhin noch am Kiosk gekauft hatte. Der Verkäufer hatte ihn freundlich angelächelt und er hatte ihm von der grundlosen Freundlichkeit irritiert das Geld auf den Verkaufstresen gelegt und war wortlos gegangen. Gedankenlos drehte er sich eine Zigarette und zündete sie in einer fließenden Bewegung an ohne innezuhalten. Den ersten Zug nehmend verfiel er in einen gleichförmigen Rhythmus, der ihn weiter in die dunkler werdenden Straßen trug. Einatmen, ausatmen, immer weiter gehen, ein Schritt nach dem anderen.
In den Vorgärten wanden sich die nächtlichen Kreaturen zwischen Weihnachtsbeleuchtung und Lorbeerhecken. Man hatte die Nacht ausgesperrt mit Lichtern und Kerzen und Wärme und nun konnte sie sich nicht einmal mehr unter den Fenstersimsen und in den stillen Ecken der Häuser einnisten. Die Menschen hatten die nächtlichen Schrecken aus der Stadt vertrieben, denn längst waren es andere Dinge, die ihnen Albträume bereiteten. Längst befanden sich die dunkelsten Orte mit den größten Geheimnissen in ihren eigenen Köpfen. Die Angst war ihnen unbemerkt auf den Rücken gesprungen und hatte ihre scharfen Klauen tief in ihr Fleisch gegraben. Sie hatte ihnen leise Worte ins Ohr geflüstert wie ein tödliches Gift, das sich langsam und kalt in ihren Hirnen ausbreitete und sie lähmte. Sie hatten ihre Köpfe eingezogen und die Rücken gekrümmt, weil die Last so schwer zu tragen war. Sie hatten begonnen, kleine Lügen zu erzählen, aus Misstrauen. Sie fühlten sich in ihren eigenen Häusern nicht mehr sicher und gaben die Schuld dafür anderen. Sie hörten auf zuzuhören und ihre Herzen zu öffnen, sie begannen, den Schlüssel einmal mehr im Schloss umzudrehen und immer Pfefferspray dabei zu haben, selbst wenn sie sich nur auf ein Bier mit Freunden trafen. Sie beschwerten sich immer mehr, aber dachten immer weniger. Einige kämpften vergebens gegen dieses mulmige Gefühl an, das sich in ihnen breit gemacht hatte, gegen die Dunkelheit in ihren Herzen, gegen die Kälte in ihrem Hirn und erlagen schließlich doch.
Als die Angst sich schließlich an ihn herangeschlichen hatte, um sich auf seinem Rücken festzukrallen, hatte er sie kommen hören und sich einfach umgedreht. So hatten sie sich plötzlich von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden, Angst und Mensch ebenbürtig, beide wachsam und stumm. Er hatte ihr lange in diese abgrundtiefen Augen gestarrt und sie hatte ohne zu Blinzeln seinen starren Blick erwidert. Er hatte endlose Sekunden lang nur sein Herz vernommen, wie es pochend und stampfend einen inneren Takt vorgab. Er hatte gespürt, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten und wie jede Faser seines Körpers sich bereitmachte zu rennen und zu fliehen. Aber er war stehengeblieben, ganz ruhig, als wäre er durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Vielleicht war da noch etwas anderes gewesen, etwas Fremdes, das erst langsam begonnen hatte zu pulsieren und immer weitere Wellen zu schlagen, bis es eins wurde mit seinem inneren Rhythmus. Vielleicht hatte es ihm die nötige Kraft gegeben, sich nach diesen scheinbar endlosen Sekunden wortlos abzuwenden und ohne ein Zögern davon zu gehen und die Angst einfach zurückzulassen. Seine Gedanken waren in dem Moment erstarrt, in dem der Blickkontakt mit ihr abgebrochen war. Sie hatten wie eingefroren Halt gemacht, als hätte etwas sie jeder Energie beraubt. Stattdessen hatte sich eine eigenartige Stille in ihm eingenistet. Also ging er weiter, ließ sich treiben von der Bewegung seiner plötzlich rastlosen Beine, ging durch die noch belebten Straßen dieser milden Dezembernacht mit dem neuen Gefühl der Stille, das ihn nun gänzlich ausfüllte.
Inzwischen war seine Zigarette bis zum Filter aufgeraucht und er schnippte sie achtlos zu Boden. Die Stille in seinen Gedanken war noch immer da. Sie fühlte sich an wie ein Tier mit kalter, glatter Haut, das sich in seinem Inneren eingenistet hatte. Jetzt, nach Stunden des ziellosen Umherirrens, wusste er nicht mehr, ob er sie überhaupt wieder vertreiben konnte, geschweige denn wollte. Das Tier in ihm war ein Geschenk, eine Trophäe dafür, dass er dem Sog dieser beiden schwarzen Höhlen widerstanden hatte. Zum ersten Mal, seit er losgegangen war, seit er der Angst in die Augen geblickt und auf dem Absatz kehrt gemacht hatte, zum ersten Mal, seit das kalte, stille Tier in ihm wohnte statt seiner alten regen Gedanken, zum ersten Mal blieb er stehen. Er blieb einfach stehen, schloss die Augen und atmete ein. Die Luft schmeckte schlagartig nach Kälte. Die nächtlichen Kreaturen räkelten sich, streckten ihre eisigen Fühler aus, bleckten mit den Zähnen und glitten aus den Schatten, vorsichtig aber neugierig.

Das Tier in ihm zuckt. Er atmet aus und sein Atem kondensiert vor seinem Gesicht und hüllt ihn ein. Das Tier in ihm öffnet die Augen und in ihnen liegt ein Funkeln, wie ein wohlgehütetes Geheimnis, uralt und beinahe vergessen. Er atmet wieder ein und genießt das Brennen der eisigen Luft in seinen Lungen. Das Tier in ihm entrollt langsam und gemächlich seinen kalten, glatten Körper und streckt sich genüsslich noch ein wenig weiter aus. Er öffnet ebenfalls die Augen, in ihnen ein eigenartiger, fremder Blick. Die Welt ist plötzlich von einem dunklen Schimmer überzogen, geheimnisvoll glänzend, als wolle sie ihnen gefallen, sich ihnen darbieten, die Welt diesem neuen Wesen. Dann kann er sie sehen. All die Geheimnisse und ungesagten Worte, die wie schmutzige dunkle Wolken tief über den Häusern hängen und alles vergiften. Er kann ihn riechen, ihren Duft, verboten, verführerisch und das Tier in ihm zischt genüsslich. Gemeinsam setzen sie sich in Bewegung, nicht länger ziellos. Sie erreichen seine Stammkneipe, sie stoßen entschlossen die dunkelgrüne Tür auf und treten ein. Sie bleiben stehen und sehen sich um. Die dunkle Wolke hängt über ihren Köpfen und alle Köpfe drehen sich zu ihm um. Es ist totenstill, niemand wagt auch nur zu atmen, sie sind mitten in ihren Bewegungen erstarrt. Er sieht jedem von ihnen in die Augen, sieht in sie hinein, sieht alles und noch viel mehr und sie wissen es. Sie wissen, sie sind verloren, in dem Moment, in dem ihr Blick auf den seinen trifft und sie das Tier darin erblicken. Er greift in die Hosentasche zu den Zigaretten, holt eine aus der Verpackung, zündet sie an, zieht daran und blinzelt nicht. Langsam atmet er den blauen Rauch aus, der sich in Wirbeln mit der dunklen Wolke verbindet. Ein Lächeln stiehlt sich auf sein Gesicht, erst kaum wahrnehmbar, dann immer breiter, bis er den Kopf in den Nacken wirft und schallend beginnt zu lachen. Das Geräusch jagt durch den vollen stillen Raum, in dem noch immer niemand wagt sich zu bewegen. Das Geräusch jagt durch seinen Kopf, kraftvoll und laut und plötzlich erwachen sie, seine Gedanken. Plötzlich rasen sie wieder und es fühlt sich großartig an. Er weiß, wer er ist. Er weiß, wozu er und das Tier fähig sind. Und er blickt in die Gesichter um ihn herum, breitet die Arme aus und beginnt zu sprechen.
 

Chaos

Schneewittchen
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Ich möchte noch dazuschreiben, dass es erst die erste Version ist. Ich freue mich über Verbesserungsvorschläge und Anmerkungen, werde den Text nun erstmal ein bisschen ruhen lassen und ihn dann nochmals überarbeiten :)
Version 2 lade ich dann auch hier hoch bzw aktualisiere den Text :)
 

Jonathan Preest

Der Priester
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Ein herrlicher Text! Sehr schön atmosphärisch.
Ich freue mich über Verbesserungsvorschläge und Anmerkungen
Anmerken kann ich nur die Stelle "Aber er war stehengeblieben, ganz ruhig, als wäre er durch nichts aus der Ruhe zu bringen." Da bin ich irgendwie über die Wiederholung drüber gestolpert.
 

Chaos

Schneewittchen
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hm, ich find's interessant! tatsächlich hab ichs als gedicht geschrieben, aber irgendwie funktioniert das auch als lied ganz gut :) richtig cool würde ich finden, wenn man aus dem Lied heraus instumental die Stimmung des Prosatextes weiterinterpretieren würde. Aber an sich steht ja alles offen :)
 

Chaos

Schneewittchen
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Uah, das gefällt mir richtig gut, was ihr hier gestern hochgeladen habt! Der Lyrikpart zusammen mit der Musik klingt echt richtig gut @schaldek
@Marvin Kopp Die Untermalung gefällt mir auch total, total spannend, wie sehr das die Stimmung noch weiter in eine bestimmte Richtung rückt :)
Das macht echt nochmal so richtig was her.

@Falk Gündel Na klar, nur zu :)
 

time-traveller

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Wenn ich behaupten würde, diese Geschichte hat mich emotional berührt, wäre das... nein, das zu sagen fühlt sich falsch an.
Irgendwo in der Mitte gab es diesen Moment, da war da keine Geschichte mehr, sondern nur noch Handlung um mich herum. Ich kann mich nicht erinnern, von Worten jemals so eingefangen geworden zu sein. Irgendwann habe ich angefangen, diese Geschichte laut zu lesen und ich hatte an keiner Stelle einen Zweifel daran, welches Wort ich wie betonen muss. Ich bin mit den Worten regelrecht verschmolzen.
Und dabei habe ich den Kern der Story noch gar nicht richtig begriffen, ich weiß immer noch nicht, was du mir eigentlich damit sagen möchtest.
Aber das wie war überwältigend. Und es spricht für sich, dass das was zweitrangig wurde.
Nominiert für den ersten Text, den ich einsprechen werde. Sobald ich das nötige Equipment dafür habe. Coming soon...
 
Moin @Chaos !
Beim Stöbern hier im Forum bin ich über Deinen Text gestolpert.
Unglaublich beeindruckend, er hat mich sofort gepackt und da wollte ich mich dann doch auch mal dran versuchen.
Ich kann nicht vertonen, ich bin ein lausiger DAW-Bediener, aber lesen kann ich ... daher ist das ganze sozusagen einfach nur meine Interpretation Deines Textes :)
Ich bin gespannt was Du (und die anderen) dazu sagst :)

 

habt einen famosen Abend, Ihr alle da draußen!

Dimo
 

Chaos

Schneewittchen
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Und dabei habe ich den Kern der Story noch gar nicht richtig begriffen, ich weiß immer noch nicht, was du mir eigentlich damit sagen möchtest.
Also, ich könnte hier definitiv erklären, was ich beim Schreiben gedacht habe, was mich inspiriert hat (Der Aufhänger war tatsächlich eine reale Situation). Aber tatsächlich hat die Geschichte oder das Wesen darin beim Schreiben irgendwie seine eigene Geschichte erzählt. Im Prinzip hat der Text bei dir genau die Wirkung erzielt, die er erzielen sollte - er soll eine ganz tiefe, grundlegende Emotion ansprechen und etwas zum Klingen bringen. Im Grund geht es mir fast immer darum, aber in diesem Text vielleicht besonders. Eigentlich passiert da ja herzlich wenig, der Leser soll einfach, wie auch der Protagonist, spüren.

Ich bin grade einfach nur sprachlos! Danke fürs Teilen!
Freut mich sehr, dass es dir gefällt, Peter! :) Und das, obwohl der Text ja eher negative Emotion anspricht,


Ich bin gespannt was Du (und die anderen) dazu sagst :)
Das freut und ehrt mich sehr, dass dir der Text so gut gefällt, dass du ihn direkt eingesprochen hast! Ich höre mir deine Version definitiv im Laufe des Tages mal an und schreib dann hier noch was dazu :) Ich freue mich immer zu hören, wie andere meine Texte interpretieren, das ist einfach unglaublich spannend und faszinierend für mich, herauszufinden, wo andere Akzente setzen und was sie da für wichtig zu betonen erachten. Vor allem, weil ich selbst eigentlich immer meine Texte selbst nochmal laut lese beim editieren, weil manche Wirkung sich dabei einfach viel besser entfaltet :D


Freue mich, dass der Text wieder kurz aus der Versenkung aufgetaucht ist hier :p
 

PeBu34

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Und das, obwohl der Text ja eher negative Emotion anspricht,
Das schon, aber er lässt mich eben absolut nicht kalt! - Und das soll er ja auch! :) Über ein paar Kleinigkeiten bin ich zwar "gestolpert", aber letztlich hat mich der Text so berührt, dass sie gleichgültig wurden.

Eigentlich passiert da ja herzlich wenig, der Leser soll einfach, wie auch der Protagonist, spüren.
Es ist kein "actiongeladener Text" aber es passiert doch eine ganze Menge. Mit dem letzten Satz ginge die Geschichte "eigentlich" erst richtig los, würde aber auch "das gewisse Gefühl" verlieren. :)
 

time-traveller

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So, wie angekündigt hier meine allererste Einlesung (vielen Dank an @MerlePoisel an dieser Stelle für die technische Ausrüstung, die ist um Welten besser als alles, was ich hier so rumfliegen hab):

 

Ich habe mir vorher bewusst keine anderen Versionen angehört, um nicht vor Ehrfurcht in den nächsten Bau zu verschwinden und gar nicht mehr draus hervorzukriechen. Das hole ich jetzt aber nach, ich bin sehr interessiert daran, wie andere die Geschichte wahrgenommen haben.
Im Gegenzug freue ich mich natürlich auch über Kritik und Feedback jeder Art. Alles über einem "Sprechen ist nicht für dich gemacht." nehme ich gerne auf :)
 
Im Gegenzug freue ich mich natürlich auch über Kritik und Feedback jeder Art. Alles über einem "Sprechen ist nicht für dich gemacht." nehme ich gerne auf

hey @time-traveller !

Ich bin ja beinahe so ein Neuling hier im Forum wie Du, daher freue ich mich diebisch über Deinen Beitrag.
"Sprechen ist nicht für Dich gemacht"? -- Haken dahinter. Die Sorge darf ich Dir wohl hier schon mal nehmen :)

Ich mag Deine Interpretation.
Sehr.

ein paar Kleinigkeiten sind mir aufgefallen, die darf ich vielleicht hier mal zusammenschreiben

(Spoiler: was jetzt kommt, ist das berühmte "Jammern auf hohem Niveau"!)

- 01:20 "... damit seine Gedanken aus ihrer Stille erwachten" Da ist mir persönlich die Pause zu lang, der Satz geht ja weiter. Irgendwie unterbricht die Pause für mich den Satz. Das ist schade.

insgesamt glaube ich, du könntest noch dynamischer mit der Sprechgeschwindigkeit spielen. Deine Interpretation wirkt auf mich etwas linear, da könnte etwas mehr Dynamik rein. Ich glaube, das könnte deiner Geschichte mehr Leben verleihen.

Ist das nicht spannend, dass auch bei mir genau dieser Text der erste war, den ich mir hier im Forum vorgenommen habe?
Das Ding *ist* aber auch fesselnd, finde ich.

Ich freu mich sehr drauf, mehr von Dir zu hören!

Liebe Grüße
Dimo
 
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