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[Hallo Forenfreunde et al., ich hab hier lang nichts mehr eingestellt, deshalb dachte ich, hier mal mein aktuellster Text. Der ist sehr anders als das, was ihr sonst so von mir hier zu lesen bekommen habt, aber vielleicht findet ihr ja Gefallen daran :)]

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Sprachbarrieren oder "Gorzej mówisz, coraz słabiej Ci idzie" (17.10.2020)
von Alexandra Begau

"Als du klein warst, da hast du mitten im Satz zwischen den Sprachen gewechselt", sagen sie stolz, als hätten sie etwas dazu beigetragen und der Perfekt ist mir schmerzlich bewusst, denn perfekt spreche ich heute bei weitem nicht mehr. Eigentlich fehlen mir ständig die Worte, nicht weil ich nichts zu sagen hätte, sondern weil ich nicht weiß, wie. Früher habe ich in beiden Sprachen geträumt, jetzt träume ich davon, mich nicht richtig ausdrücken zu können und wache aufgewühlt davon auf. Manchmal glaube ich fast, die Worte stehlen sich davon, je mehr ich versuche, sie festzuhalten und meine Angst, etwas Falsches zu sagen, frisst sie nach und nach alle auf. In Deutschland überkommen mich Glücksgefühle, wenn ich in Menschenmengen Polnisch höre, es erinnert mich an Sommerferien zwischen Plattenbauten und Waschbeton, an Tage an der Ostsee und das sanfte Rauschen des Meers, das sich in der Sprache wiederfindet. Jetzt, wenn ich hier bin, überkommt mich nur ein beklemmendes Gefühl und ein schwerer Kloß im Hals. Ich bin zu viel Deutsch und zu wenig Polnisch. Es reicht nicht, dass ich herkomme, weil hier der Ort ist, an den meine Sehnsucht immer wieder zurückkehrt, weil ein Teil von mir hier Wurzeln geschlagen hat. Es reicht nicht, dass ich jedes Wort dreimal zwischen Gaumen und Zunge wende, um es richtig auszusprechen, dass ich ständig über meine eigenen Fehler erschrecke, weil ich sie zwar höre, aber nicht verhindern kann. Es reicht nicht, dass ich einmal im Jahr zurückkehre, dass mir Wochen später noch der Sand aus den Taschen rieselt und ich jedes Jahr aufs Neue Steine und Muscheln mit nach Hause nehme, um sie auf dem Fensterbrett aufzuschichten. Es reicht nicht, dass Polen für mich Herkunft ist, weil es doch nicht Heimat ist, es reicht nicht, dass hier meine Vergangenheit liegt, wenn dieses Land und ich keine gemeinsame Zukunft haben. Es reicht nicht, dass ich es nicht vergessen kann, das Meer, die graue Verschrobenheit, das Essen, das Rauschen des Meeres, gesäuselte Abschiede vor langem Vermissen.

2015, Flüchtlingskrise, mein Onkel holt mich in Gdynia am Busbahnhof ab, ich sitze übermüdet neben ihm im Auto, während wir zu Babcia und Dziadek fahren. Er fragt mich unvermittelt, ob ich denn keine Angst habe, vor all diesen Menschen mit ihrem fremden Glauben und ihrer verlassenen Heimat, ob das nicht zu viel sei. Ich schlucke schwer, ich würde gerne sagen, dass Menschen immer noch Menschen sind und Heimat kein Urteil über den Wert eines Lebens sein sollte, ich würde gerne sagen, jeder hat ein Anrecht auf Frieden, ich würde gerne sagen, dass man keine Mauern bauen darf, wenn man Angst vor dem Unbekannten hat, weder in die Welt noch in den eigenen Kopf, aber aus meinem Mund kommen nur Phrasen und Wortsuchen und Halbsätze, ich kenne weder das polnische Wort für Flüchtlinge noch für Menschenrechte und ich fühle mich unzulänglich.

2016, Ostern in Polen, der Tisch gedeckt mit Lieblingsessen, galaretka und sałatka jarzynowa und kiębaski, mein Polnischsein verorte ich vor allem im Essen, vor allem an Ostern und an Weihnachten und ich bin glücklich, dass wir hier sind, wir unterhalten uns und Babcia sagt laut "Du sprichst immer schlechter" und jemand pflichtet ihr bei und mir vergeht der Appetit. Meine Mutter verteidigt mich, vielmehr eher sich und warum sie das Polnischsein nicht besser in ihre Kinder eingearbeitet hat zwischen all dem deutschen Alltag, genug, dass ich gewissenhaft in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen anrufe oder mühsam Postkarten aus dem Urlaub schreibe, trotzdem fällt das Urteil über mich vernichtend aus und wir fühlen uns unzulänglich.

2017, Krakau, ich atme die Geschichte dieses Landes mit dem Smog der Großstadt ein und in kalten Kondenswolken wieder aus, ich belege polnische Kurse, ich lese polnische Bücher, mein Wortschatz war noch nie so lebendig und ich fühle mich dieser Sprache ein wenig mehr gewachsen, ich erobere sie mir in kleinen Schritten zurück. Die polnischen Studierenden, mit denen ich rede, loben mich und zum ersten Mal denke ich, vielleicht geht es mir gar nicht so schlecht über die Zunge, wie ich immer glaube. Ich höre andere Deutsche mit polnischen Eltern sprechen und auch ihnen geraten gelegentlich die Worte im Mund durcheinander, auch sie stolpern im falschen Rhythmus durch die Sätze, aber es tut nichts zur Sache.

2018, Dziadek stirbt und mit ihm geht ein Teil meiner Kindheit und mir wird schmerzlich bewusst, dass ich meine eigenen Wurzeln am Leben halten muss, in einigen Jahren. Babcia sieht weniger aus als ich sie in Erinnerung habe, die Jahre haben sie einfallen und schrumpfen lassen, bis irgendwann nichts mehr von ihr übrig ist und es versetzt mir einen Stich.

2019, ich verbringe zu viel Zeit damit, mich aufzuregen und noch mehr Zeit damit, enttäuscht zu sein, als mein Onkel bei facebook homophobe Äußerungen macht, die ich nicht im Raum stehen lassen kann und ich erklimme meine Barrieren, um unter seinem Beitrag endlich zu kommentieren, was ich seit 4 Jahren sagen will, währenddessen schweigt meine Mutter, resignierend, es habe keinen Sinn zu diskutieren, was sie meint ist, auch sie fühlt sich diesem Land schon lange nicht mehr zugehörig, vielleicht fühlt auch sie sich unzulänglich.
 

Phollux

Robert Kerick
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Whow, was für ein einfühlsam-bitterer Text. Irgendwie erzeugt er bei mir das Gefühl mich mit einer sehr dicken Daunenjacke, bei Nieselregen, auf eine Parkbank zu setzen um diesen Text zu lesen.
 

Chaos

Schneewittchen
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Whow, was für ein einfühlsam-bitterer Text. Irgendwie erzeugt er bei mir das Gefühl mich mit einer sehr dicken Daunenjacke, bei Nieselregen, auf eine Parkbank zu setzen um diesen Text zu lesen.
Ich fasse das als großes Kompliment auf :)



Ich würde den Text auch in näherer Zukunft ganz gerne vertonen. Die Version stelle ich dann auch noch hier ein :)
 

PeBu34

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Äääääh...bitte?
Der Text hat mich einfach unheimlich berührt und im ersten Momemt sprachlos gemacht! :)

Ich hab ja einige Freunde die selbst - oder deren Eltern - in einem anderen Land geboren und dann irgendwann nach Deutschland gezogen sind. Von daher kenne ich die Gedanken und Gefühle, die du aufgeschrieben hast, teilweise. So deutlich und berührend habe ich sie aber noch nie mitbekommen. :)

Liebe Grüße von
Peter :)
 

Chaos

Schneewittchen
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Der Text hat mich einfach unheimlich berührt und im ersten Momemt sprachlos gemacht! :)

Ich hab ja einige Freunde die selbst - oder deren Eltern - in einem anderen Land geboren und dann irgendwann nach Deutschland gezogen sind. Von daher kenne ich die Gedanken und Gefühle, die du aufgeschrieben hast, teilweise. So deutlich und berührend habe ich sie aber noch nie mitbekommen. :)

Liebe Grüße von
Peter :)
Das ist so schön und wertvoll, dass du mein Geschriebenes mit anderem Erlebten verknüpfen kannst! :)
 
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