Chaos

Schneewittchen
Teammitglied
Sprechprobe
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Sodele liebe Leute,
einige haben vielleicht schon das Eingesprochene von Yüksel und Kolibri gehört.
Hier der Text, zum Mitlesen quasi :D




Klippensturz

Sie blickte herab. Vor ihr, gerade da, wo sich ihr großer Zeh befand, tat sich der Abgrund auf. In hundert Metern Tiefe brandeten Wellen gegen die steile Klippe. Das war es, das Ende.
Sie hatte es sich irgendwie dramatischer vorgestellt. Spektakulärer.
Stattdessen würde man ihr einfach einen kräftigen Stoß geben und ihr ohnehin schon von den Strapazen der letzten Tagen geschundener Körper würde die Steilklippe hinabstürzen, direkt in die Untiefen des Meeres. Sie seufzte.
Noch nicht einmal das würde der Realität entsprechen. Es war noch banaler.
Dort unten gab es keine Untiefen. Nur Felsbrocken, riesige Steine, die sich in den vielen Jahren aus der Klippe gelöst hatten und mit einem lauten Aufklatschen ins Meer gefallen waren.
Sie würde auf diese Steine stürzen und ihr Körper würde daran zerschellen.
Sie stellte sich diesen letzten Moment vor, das Knacken ihrer Knochen auf hartem Stein, den Moment, in dem man nichts mehr spürte, weil der Tod einen bereits gepackt hatte.
Gepackt mit kalten, nassen Händen. Es war ein schlechter Tod. Unspektakulär und schnell. Vielleicht ein bisschen dramatisch. Aber nicht dramatisch genug.
Eigentlich hatte sie geplant, heldenhaft zu sterben, aber daraus wurde nun wohl doch nichts.
Sie nahm einen letzten tiefen Atemzug und nahm sich vor, den Sturz zu genießen.
Denn was konnte man sonst tun, als dem unausweichlichen Tod mit offenen Armen entgegen zu fallen? Dort unten, da wartete er auf sie.
Der Henker trat an sie heran, er roch wie der Tod selbst. Dunkel, niederträchtig. An ihm klebte der Geruch derjenigen, die er auf dem Gewissen hatte.
Dann packte er sie mit seinen schmutzigen Händen. Umschloss ihre Oberarme und wartete. Auf was?

In dem Moment trat der Oberste nach vorn und sprach mit lauter Stimme zu ihr gewandt, sodass es jeder der Anwesenden mithören konnte: „Du, Helen, wurdest zum Tode verurteilt, weil du die Bürger aufgehetzt hast. Du hast Unwahrheiten verbreitet und Menschen zu Tode geängstigt. Du hast Gott gelästert. Du bist eine Ketzerin, eine elende Verräterin, eine Teufelsanbeterin!
Da! Der Teufel steht neben dir und flüstert dir seine dunklen Visionen von Untergang und Zerstörung zu. Du bist es, die uns ins Verderben führen will.
Nun geh hin, gib dich in die Hände des Teufels, schmore in der Hölle dafür, dass du einen Bund mit ihm eingegangen bist!“
Bei diesen Worten stieß der Henker sie die Klippe hinunter.
Nun war er gekommen, der Augenblick des Todes. So nah.
Sie schloss die Augen, um diese letzten kurzen Momente voll auszukosten, um sich frei zu fühlen wie ein Vogel im Sturzflug.
Sie spürte den Zugwind an ihr vorbeirauschen, ja, sie hörte sogar das Meer.
Gleich war es soweit. Sie zählte rückwärts, um sich zu beruhigen. Langsam wurde ihr kalt und unbehaglich.
5...4...sie spannte reflexartig alle Muskeln krampfhaft an...
3...2...die Zeit schien langsamer zu vergehen. Ganz langsam, gemächlich und zäh.
1...JETZT!
Sie erwartete den Aufprall, er müsste jeden noch so winzigen Augenblick eintreffen.
Aber er traf nicht ein. Sie fiel immer weiter. Durch das Meer hindurch in eine bodenlose Leere.

Der Tod war nicht dagewesen, um sie zu empfangen.
Die Dorfbewohner warteten auf das Klatschen eines Körpers auf harten Felsen, doch sie warteten vergeblich. Nichts. Kein einziges Geräusch. Nur der Wind und das seltsam verstörende Rauschen des Meeres.
Vielleicht hatten sie es einfach nur überhört, dieses erwartete Geräusch. Vielleicht war es in den anderen Geräuschen untergegangen. Vielleicht.

Plötzlich fuhr ihnen ein eisiger Windhauch vom Meer her entgegen und ließ sie alle frösteln und ihre Mäntel enger zusammenziehen.
Auf einmal hatten es alle eilig, diesen kalten und unheimlichen Ort zu verlassen. Einer nach dem Anderen drehte sich um und trat den Heimweg ins Dorf an.
Nur einer blieb.
Es war ein Junge, der am Rand der Klippe stand und wortlos und mit starrem Gesicht auf die Wellen unter sich starrte. Er war der Einzige, der wusste, dass Helen keineswegs gestorben war.
Dieser Junge ballte nun die Hand zu einer Faust und murmelte kaum hörbar:
„ Ich habe dir geglaubt.“
 
G

Gelöschtes Mitglied 2384

AW: Klippensturz

Sehr atmosphärisch ... schön. Ich kann mich bis zum Sturz hinein fühlen. Vielleicht noch ein wenig mehr Verzweiflung ... ein wenig wirrer ... nein, ich denke das ist schon wieder zu subjektiv, denn jeder steht dem Tod ja anders gegenüber.
 
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