• Blut-Tetralogie   Dark Space
Zum Jahresende noch eine weitere Geschichte von mir. Wer sie einlesen möchte, kann sich gerne daran versuchen. Vielleicht auch eine gute Möglichkeit für "Neulinge" zu zeigen, was man kann.

Ein dunkler Tag im November
von Frank Hammerschmidt

"Was auch geschieht, ich werde immer zu Dir zurückkehren!"
Nie hatte Annabel die Worte ihres Mannes vergessen. Es war am Abend ihrer Vermählung gewesen. Ian war sturzbetrunken auf einen Tisch geklettert und hatte diese Worte ausgesprochen. Annabel mußte schmunzeln. Sie erinnerte sich daran, wie ihr Mann anschließend fast in das Hochzeitsessen gefallen wäre. Die Dorfkapelle hatte aufgehört zu spielen und alle hielten sich die Bäuche vor lachen. Glückliche Tage waren das noch damals.
Die junge Frau sah über das Meer. Dunkle Wolken hatten sich gebildet und es begann zu nieseln. Wasser umspülte ihre nackten Füße. Doch das schien sie nicht zu stören.
Gedankenverloren blickte sie gen Horizont, wo sich das Grau des Himmels mit dem Grau des Wassers traf.
Schon bald nach der Hochzeit kam die Ernüchterung. Ian war ein einfacher Fischer, rau und wenig einfühlsam. Die Einnahmen des Fischfangs reichten nur für ein eher kärgliches Leben und ihre Liebe wurde von der Eintönigkeit des Alltags aufgefressen. Tagsüber war Ian mit seinem kleinen Boot auf dem Meer, während Annabel sich zu Hause langweilte. Die einzige Abwechslung waren die beiden Söhne der alten March, ihrer Nachbarin, die seit dem Tod ihres Ehemannes den Leuchtturm betrieb. Vorallem der jüngere, Duncan, bemühte sich sehr um sie. Nicht selten brachte er ihr Blumen mit oder andere kleine Aufmerksamkeiten, wie sie es von Ian nicht gewohnt war. Duncan war ganz anders, zärtlicher und mitfühlender. Es kam, wie es kommen mußte. Annabel und Duncan verliebten sich ineinander.
Es war ein leichtes, ihre Beziehung vor Ian geheimzuhalten, auch wenn es gegen den Willen von Duncans Mutter March geschah. Doch sie unternahm nichts, sondern duldete es stillschweigend.
Annabels Leben verlief wieder glücklich -
bis zu jenem Tag im November, an dem Annabel dreißig wurde.
Bis zu jenem Tag im November, an dem Ian früher als gewöhnlich vom Fischfang kam.
Bis zu jenem Tag im November, an dem zwei Menschen sterben sollten.
Tränen rannen über Annabels Wangen, sie stand nun schon knietief im Wasser. Ihr Kleid klebte an ihrem Körper. Ihr Blick war auf einen kleinen Punkt am Horizont gerichtet, der näherzukommen schien, bevor er wieder von den Wellen verschlungen wurde.
Annabel zuckte zusammen. Sie erinnerte sich an den Klang des Schußes, der Duncans Leben ein Ende setzte und Ian zum Mörder werden ließ. Sie sah noch einmal die weit aufgerissenen Augen ihres Liebhabers, hörte das Poltern des Revolvers, der zu Boden fiel und verspürte dieses ungeheure Gefühl der Enttäuschung, das ihr von Ians Antlitz entgegenkroch, bevor er panikerfüllt das Haus verließ.
Erst Tage später erfuhr sie, das Ian in seinem Boot auf das Meer herausgefahren war und dort den Tod gefunden hatte.
Diese Ereignisse hatten Annabel altern lassen. Graue Strähnen hatten sich unter ihre sonst so blonden Haare gemischt und ihre weichen Gesichtszüge waren Furchen der Verbitterung gewichen. Sie mied die Gesellschaft der Dorfbewohner und zog sich fast vollständig in ihr kleines Häuschen zurück. Nur gelegentlich sah man sie am Strand spazierengehen, so wie heute.
Der schwarze Punkt war wieder aufgetaucht. Doch er war noch zu weit weg, um zu erkennen, um was es sich handelte.
Ein Jahr nach dem Tod ihres Mannes und dem ihres Geliebten fand Annabel eine Flasche, die das Meer an den Strand gespühlt hatte. In ihr befand sich ein Zettel. Sie erkannte sofort die Handschrift - Ians Handschrift. Nur ein einziger Satz stand auf dem Stück Papier: "Was auch geschieht, ich werde immer zu Dir zurückkehren."
Sie hatte damals einen Weinkrampf bekommen und verbrachte die Wochen darauf im Bett mit hohem Fieber. Einmal in der Woche kam die alte March zu ihr, um nach ihr zu sehen. Wortlos saßen sich die beiden so unterschiedlichen Frauen dann gegenüber. Selten nur kam es zu einem Gespräch.
Im Jahr darauf, es mochte der gleiche Tag im November gewesen sein, strandete ein kleines Fischerboot an der gleichen Stelle, wie zuvor die Flaschenpost.
Duncans Bruder Liam hatte das Boot an Land gezogen. Auffällig allein war der Schriftzug, der in das Boot geschnitzt worden war: Annabel und Ian.
Die alte March berichtete es bei ihrem wöchentlichen Besuch. Annabel mußte sich übergeben, als sie davon erfuhr. Doch March saß ungerührt an dem kleinen Holztisch in der Küche und machte sich schließlich auf dem Heimweg zu ihrem Leuchtturm. Ihre Besuche wurden seltener.
Seit diesem Vorfall war wieder ein Jahr vergangen.
Das Wasser reichte Annabel inzwischen bis zur Hüfte. Es fiel ihr schwer, das Gleichgewicht zu behalten. Der schwarze Punkt war noch näher gekommen. Es handelte sich um ein Boot, doch dieses Mal befand sich jemand darauf. Eine bleiche Gestalt.
Annabel hatte sie längst erkannt. Es war Ian, ihr toter Mann.
Näher und näher kam das Fischerboot. Schließlich sprang die Gestalt fast lautlos in das Wasser. Einen Moment lang schien es, als würde sie einfach untergehen, doch dann tauchte sie langsam vor Annabel auf.
"Ian!" Das war alles, was Annabel sagte.
Seine Augen sahen sie durchdringend an. Er war bleich und aufgedunsen. Sie vernahm seine Stimme, obwohl sich sein Mund nicht öffnete.
"Was auch geschieht, ich werde immer zu Dir zurückkehren."
Ian streckte ihr seine Hand entgegen. Annabel ergriff sie.

***

Seit Stunden schon blickte die alte March mit einem Fernglas aus dem Fenster ihres Leuchtturms. Sie beobachtete eine ihr wohlbekannte junge Frau, die bis zum Oberkörper im Wasser stand: Annabel.
March griff mit einer Hand nach ihrem kleinen Radio und stellte es etwas lauter. Klänge ihres Lieblingskomponisten Jurentino Rosas wurden gespielt, ein Walzer mit dem Namen "Über den Wellen".
Dann sah sie wieder hinaus. Lediglich Annabels Kopf lugte noch hervor, wurde von der nächsten Welle erfasst und blieb verschwunden.
March rieb sich die Augen. Es war spät geworden. Nun war es an der Zeit, das Licht im Leuchtturm zu entfachen.
Ein Gewitter zog auf. Dumpfer Donner war aus der Entfernung zu vernehmen.
Heute war wirklich ein besonders dunkler Tag im November.

Ende
 
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