A. Weltenbruch

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Die Frau saß seit Wochen jeden Tag auf der Bank vor dem Bahnhof. Eine ältere Frau, gepflegt. Immer von 16 Uhr bis 17 Uhr. Das war alles, was ich über sie wusste. Ein Pfleger brachte sie immer dahin, kam dann meistens zu mir in den Bahnhofsladen, kaufte Zigaretten und erzählte von der Arbeit. Wir hatten noch nie über die Frau, die draußen saß, gesprochen. Ich dachte, vielleicht wäre es dem Pfleger unangenehm oder es gab irgendeine Vorschrift, sicher gab es die, aber in den letzten Wochen hatte er mir allerhand seltsamer Geschichten über die Alten im Heim erzählt. Von einem Mann, der alle paar Wochen, kurz bevor jemand im Heim starb, eine Schallplatte auflegte. Jedes Mal. Niemand konnte sich das erklären, niemand verstand, woher der Mann das wusste. Oder ein Mann, der immer nach den Pflegerinnen grabschte.
„So'n richtiger alter Perverser“, hatte der Pfleger dazu gesagt. Oder ein älterer Herr, der jeden Tag Pflaumenkuchen aß, jeden Tag, unermüdlich. Es gab auch schöne Geschichten, aber die seltsamen Geschichten interessierten mich am meisten.
„Warum bringst du die Dame eigentlich immer hierher?“
Der Pfleger seufzte. „Die schaut nach dem Zug mit dem ihr Mann kommen soll. Ist schon schwer dement. Sie kann sonst nicht schlafen. Um 17 Uhr wird ihr dann klar, dass er nicht mehr kommt und wir fahren zurück ins Heim. Jeden Tag.“
„Warum wartet sie denn?“
„Vor sechs Wochen sollte ihr Mann mit dem Zug kommen, aber es gab einen … Unfall.“
„Oh, das ist ...“
Der Pfleger nickte.
„Und seitdem muss sie jeden Tag hierherkommen, sonst schläft die nicht, da haben wir echt alles probiert. Wir sagen ihr jedes Mal, dass er nicht kommt, dass er gestorben ist, aber sie glaubt uns nicht.“
„Sie ist wirklich ein guter Mensch ... dass sie jeden Tag wieder herkommt. Ich kann mir das gar nicht vorstellen dann jedes Mal aufs Neue diesen Schmerz durchleben zu müssen.“
„Nicht Schmerz.“
Ich sah den Pfleger verwirrt an.
„Freude. Sie wartet nicht auf ihn. Sie will sicher sein, dass er nicht mehr kommt. Sie hatte kein gutes Leben.“
 

Nanami

Es sind heute viele Leute in Versailles
Sprechprobe
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Hui, das ist schon ziemlich exquisit, das ist hohe Kunst und ja, ich erlaube mir, das beurteilen zu können.
Der Schreibstil ist einfach perfekt. Und obwohl auf wertende Satzstellungen nahezu komplett verzichtet wird, habe ich das Gefühl, die Würde dieser Dame wird zu keiner Zeit in Frage gestellt, sondern vorausgesetzt; das ist sehr beruhigend.
Ich habe auch das Gefühl, dass alle diese Geschichten auf eine Art in einen "Superplot", Metaplot oder wie auch immer man das nennt, verpackt werden könnten.
 
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