A. Weltenbruch

Mitglied
Es ist unmöglich die Gefühle zu beschreiben, die bei einem Autounfall in einem hochkommen. Das sind so viele. So unendlich viele Gefühle. Vielleicht ist es auch gar nichts. In dem Moment macht es aber keinen Unterschied. Ich bin nicht traumatisch geschädigt oder ähnliches. Mir geht es gut. Ich kann mein Leben wie bisher weiterführen. Einfach zur falschen Zeit am falschen Ort. Nachts unterwegs auf der Autobahn und zack – ein Auto voll reingefahren. Besoffener Typ. Aber kaum verletzt der Typ, zum Glück. Nur ein paar Schrammen. Genau wie ich. Auch wenn ich natürlich weiß, dass er uns beide hätte umbringen können, wünsche ich ihm kein Leid. Warum auch. Jeder macht mal Fehler. Und dieses Mal ist ja zum Glück nichts passiert.
Ich war dann im Krankenhaus, hab mich behandeln lassen. Nichts großartiges. Wie gesagt ein paar Schrammen. Wurde desinfiziert und ich wurde mit einer Tablette zum Einschlafen nach Hause geschickt. Den Schaden übernimmt die Versicherung von dem Typen.
Ich bin mir nicht mehr sicher, wann ich es genau bemerkte. Ob ich es schon registriert hatte, als ich mir vor dem Schlafen gehen mein Gesicht gewaschen habe, aber nicht richtig wahrgenommen hatte oder ob es erst am nächsten Morgen in den Mittelpunkt meiner Aufmerksamkeit stand. Ein kleiner bläulicher Fleck. Rechts neben der Iris in meinem rechten Auge. Der Fleck war winzig, sodass ich im ersten Moment dachte, meine Sinne hätten mich getäuscht, aber dann sah ich nochmal hin. Er war da.
Irgendein winziges Stück Stoff was sich im Auge verfangen hatte? Es war nicht weiter wichtig, aber jetzt wo ich es gesehen hatte, störte es mich auch. Ich fühlte einen Fremdkörper in meinem Auge. Ich rieb etwas, doch der kleine Punkt verschwand nicht. Ich ging ins Bad und suchte die Augentropfen. Weg. Wohl irgendwann aufgebraucht. Ich beschloss nach der Arbeit an einer Apotheke vorbeizugehen. Mit dem Bus fuhr ich in die Stadt. Nicht, dass ich jetzt Angst vorm Autofahren hätte oder so. Nur meins war ja kaputt.
Auch auf der Arbeit lenkte mich das Fremdkörpergefühl ab. Ich konnte mich auf nichts mehr richtig konzentrieren. Ich wurde auch von dem Chef angesprochen, der mich fragte, ob es mir gut ginge, er hätte ja von dem Unfall gehört und es wäre kein Problem, wenn ich mir ein paar Tage freinehmen würde. Ich verneinte und versuchte meine Arbeit besser zu machen. Mir ging es doch gut. Nur dieser blaue Punkt irritierte mich. Na ja, der Spuk wäre sowieso bald vorbei dachte ich und versuchte mit dem Gedanken weiterzumachen. Am Ende meiner Arbeitszeit ging ich zielstrebig zur nächsten Apotheke und kaufte mir Augentropfen, dann nach Hause und gab mir erst einmal ein paar Tropfen ins Auge. Nichts. Der verdammte Punkt war immer noch da. Weitere Tropfen. Wieder nichts. Ich rieb wieder etwas, doch es veränderte sich rein gar nichts. Ich entschied mich am nächsten Tag zum Arzt zu gehen. Er würde mir helfen können.
Etwas saß ich noch vor dem Fernseher und versuchte nicht an den Punkt zu denken. Klappte aber natürlich nur bedingt. Irgendwann versuchte ich auch zu schlafen, aber ich wälzte mich nur in meinem Bett herum. Konnte an nichts anderes denken. Als ich viel zu früh aufstand, rief ich doch bei meinem Arbeitgeber an. Heute würde ich mich krank melden, zum Arzt gehen und dann morgen wieder zur Arbeit. Danach rief ich beim Hausarzt an, der mir glücklicherweise direkt einen Termin geben konnte. Vorher sah ich nochmal in den Spiegel. Ich war mir nicht sicher. Aber ich glaube der Punkt hatte sich etwas vergrößert.
Der Arzt war nur zehn Minuten zu Fuß entfernt und ich musste glücklicherweise nur ein paar Minuten im Wartezimmer warten.
Ich bin schon seit Jahren bei meinem Hausarzt. Bestimmt schon fast 10 Jahre. Der alte Doktor XY. Guter Mann. Nachdem ich hineingebeten wurde, schilderte ich dem Doktor mein Problem.
„Da im Auge, der Punkt da, der blaue. Ich weiß nicht was das ist, aber...“
„Lassen Sie mal sehen“, sagte er und zog ein kleines Gerät aus einer der Schubladen. „Bitte weit aufmachen.“
Er leuchtete mir in das Auge.
„Hm“, kam von dem Arzt. Er machte das Licht wieder aus.
„Wie hm?“
„Da ist nichts“, sagte er. „Manchmal bildet man sich eben Sachen ein. Ist ja nicht schlimm. Besonders nach dem Unfall... also, so was kann eben vorkommen. Machen sie sich keinen Kopf.“
Genervt verließ ich die Praxis und ging wieder nach Hause. Inkompetenter Idiot. Im Spiegel sah ich, dass der Punkt wieder größer geworden war. Verdammt. Und plötzlich war ich mir nicht mehr sicher, ob der Arzt „Da ist nichts“ oder „Das ist nichts“ gesagt hatte. Wenn er „Da ist nichts“ gesagt hätte, wäre da nichts gewesen, aber da war ja was. „Das ist nichts“ musste er gesagt haben. Ich war mir sicher. Und es war etwas. Es brannte mittlerweile leicht, fühlte sich immer unangenehmer an. Ein paar Augentropfen halfen natürlich wieder nichts und auch diese Nacht konnte ich keinen Schlaf finden. Ich kam zu dem Schluss, dass der Mann ja normaler Hausarzt war. Ein Spezialist würde mir sicher besser helfen können. Eine weitere Nacht schlug ich mir um die Ohren. Keine Chance zu schlafen. Nach zwei Stunden gab ich es auch auf und sah etwas Fernsehen, während die Kaffeekanne sich leerte und die Sonne langsam aufging. Glücklicherweise bekam ich auch bei diesem Arzt direkt einen Termin und fuhr wenige Stunden später zu der Praxis. Mittlerweile brannte es wirklich stark in meinem Auge, sodass ich nur hoffte, dass der Arzt mir endlich helfen könnte. Gleichzeitig hatte ich mittlerweile dröhnende Kopfschmerzen aufgrund der Müdigkeit und ständig fielen mir die Augen zu, aber schlafen konnte ich trotzdem nicht. Ich stieg aus und ging zum Arzt. Er sagte mir, dass es keinen blauen Punkt gäbe und empfahl mir einfach ruhig zu schlafen, gab mir auch ein leichtes Beruhigungsmittel mit. Zuhause angekommen schluckte ich es, doch meine Kopfschmerzen und das Brennen und Jucken in den Augen wurde nicht besser. Schlafen konnte ich natürlich auch nicht. Ich konnte mich kaum noch richtig auf Sachen konzentrieren. Doch mir wurde immer klarer, dass das enden musste. Im Spiegel sah ich, dass der Punkt noch größer geworden war. Dieses Gefühl war so ekelhaft. Ich wusste, dass man mir freiwillig nicht helfen würde. Aber ich brauchte Hilfe, unbedingt Hilfe.
Seltsamerweise konnte mein müder Kopf noch einen klaren Gedanken fassen. Ich stolperte zum nächsten Krankenhaus. Es gab dort neben den Snackautomaten einen Spiegel. Im ersten Moment traute ich mich nicht, doch dann sah ich wieder den blauen Punkt und stach mir mit einem mitgebrachten Messer in das Auge. Mehrmals, ich konnte nicht hinsehen, doch dann sah ich nur noch Blut und seltsame Flüssigkeit. Kein blauer Punkt. Ich lächelte, als ich umkippte.
Man musste mir mein Auge komplett entfernen und ich musste mich einer psychiatrischen Behandlung unterziehen, aber das war nur ein kleiner Preis für die erste Nacht, die ich wieder schlafen konnte.
Es ist schön hier. Wirklich sehr schöner Ort. Ich trage jetzt einen Verband, die Wunde muss noch verheilen. Gerade wird er abgenommen und ich bekomme gleich einen neuen. Der Arzt ist kurz raus, wurde gerade gerufen. Wie ich wohl jetzt aussehe? Ein wenig mulmig wird mir schon, als ich zu dem Spiegel im Zimmer gehe. Es sieht schrecklich aus. Aber ich kann endlich wieder schlafen. Nicht schlafen zu können ist echte Folter. Viel vernarbtes Gewebe in der Augenhöhle. Doch.. Nein, das kann nicht sein. Ich gehe etwas näher. Ein winziger blauer Punkt sitzt in der Augenhöhle. Ich spüre wieder dieses Fremdkörpergefühl. Vielleicht wenn ich es herauskratze. Ich sollte an der Wunde nicht rummachen, aber nur ein bisschen, nur ganz kurz. Dann ist es sicher gleich weg.
 
Oben