• Blut-Tetralogie   Dark Space

Dorka

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Eine Kurzgeschichte, die ich als E-Book bei Amazon eingestellt habe. Ich wollte das mal testen, habe aber nie Werbung dafür gemacht.
Wenn es jemanden interessiert, würde ich mich freuen.

Bankgeheimnis - Fast ein Krimi

von Doris Köhler


Rolf Miesner fühlte sich von den Blicken der Bankmenschen hinter den Scheiben verfolgt, während er mit Klara den Glaskasten von Credit Manager Nick Bredhorst suchte. Die letzte Chance für ihren Traum. Zögernd öffnete er die Tür. Der junge Mann hinter dem Schreibtisch sah auf und nickte ihnen ohne ein Lächeln zu.
„Frau Lessing hat uns zu Ihnen geschickt, …“, begann Rolf, nachdem sie auf den Besucherstühlen Platz genommen hatten.
„…weil sie nicht weiter weiß“, unterbrach ihn Bredhorst.
Rolfs Mut sank.
„Ein Bauernhaus mit Reparaturstau?“, fragte Bredhorst.
Rolf nickte. „Aber wir können selbst sehr viel …“
„Ja, ja“, wurde er ein weiteres Mal unterbrochen. „Arbeit allein genügt nicht. Ihr Einkommen reicht gerade für die Abzahlung, wie wollen Sie das Material finanzieren?“
Rolf blickte bedrückt zu Klara. „Ich kann wieder mitarbeiten“, sprang sie ein.
„Sie sind schon sechsundvierzig?“, ließ Bredhorst durchblicken, was er von ihren Chancen auf einen Job hielt.
Klara sank in sich zusammen. In Rolf flammte für einen Augenblick Wut auf.
„Aber Ihre Mutter lebt doch noch?“, wandte sich Bredhorst nun an Rolf. Verblüfft nickte er. „Und ich sehe, Platz hat das Haus genug?“ Wieder nickte Rolf.
„Warum zieht sie nicht zu Ihnen? Pflege ist ja da“, er zwinkerte Klara zu, „und das, was sie an Miete einspart, kann sie in Ihr Haus investieren.“
Rolf sah fragend zu Klara. Die blickte ausdruckslos vor sich hin. Dachte sie an den letzten Streit mit Mutter?
„Und die gute Frau Lessing hat doch tatsächlich vergessen, das Kindergeld für Ihren Sohn Max ins Budget aufzunehmen.“
„Dann lassen Sie uns mal rechnen.“ Bredhorst tippte schon auf der Tastatur seines Computers herum.
„Steuerminderung wegen Kostenüberschuss aus dem Mietverhältnis mit der Mutter, Kindergeld, Steuerersparnis nach 10e, mögliche Zuschüsse für Isolierung, vielleicht noch Pflegegeld.“ Er machte eine kleine Pause und starrte auf den Bildschirm. „Das ist doch schon ganz ordentlich.“ Er nickte Rolf zu, der langsam Hoffnung schöpfte. Bredhorst zog ein Blatt aus dem kleinen Drucker hinter sich und legte es mit einem eleganten Schwung vor Rolf auf den Tisch. Rolf und Klara beugten sich vor. Nun hatte sich sogar ein aufmunterndes Lächeln in das Gesicht des Kreditberaters geschlichen.
Rolf starrte auf das Einkommen, das Bredhorst auf das Papier gezaubert hatte. Ihm wurde fast schwindelig und er hörte an dem erschrockenen Luftholen seiner Frau, dass es ihr genauso ging. Er zeigte auf den Posten des Pflegegeldes.
Bredhorst kam ihm zuvor. „Auch wenn das erst später kommt, haben Sie doch ein gutes Polster!“

Dem folgenden Bombardement mit Formularen, Verträgen und Infoblättern hielt Rolf kaum Stand. Ein Seitenblick verriet ihm, dass Klara längst aufgeben hatte. Dennoch gelang ihm eine Frage nach den hohen Hypothekenzinsen, die Bredhorst mit Hinweis auf die nötige Vollfinanzierung abtat. Schließlich legte er Rolf noch einen Vertrag über eine Lebensversicherung vor.
Dabei sah er Klara tief in die Augen. „Damit Sie das schöne Häuschen nicht weggeben müssen, wenn Ihrem Mann mal was passiert.“ Mit einem Lachen wie nach einer gelungenen Pointe sah er Rolf an. „Das wollen wir natürlich nicht hoffen, Sie strotzen ja vor Gesundheit!“
Rolf unterschrieb alles und reichte es an Klara weiter, die es ihm stumm nachmachte.

Auf dem Weg zum Auto legte Rolf seinen Arm um Klaras Schultern. Er konnte sich nicht entscheiden, ob er über die Flut von unterschriebenen Verträgen beunruhigt sein oder dem leisen Glücksgefühl über den Hauskauf nachgeben sollte.

Bredhorst grinste über das ganze Gesicht, als er abends am Empfangsschalter im Erdgeschoss vorbeikam. Dieser Abschluss würde ihm heute Abend Punkte bringen. Grollmann lehnte sich gerade über den Tresen und redete auf die Neue ein. „ …wirklich, es ist cool! Ce-Null-Null-Ell!“
Hilfe suchend blickte die hübsche Blonde zu ihrer Kollegin.
„Bloß nicht, die reinste Gockelparade!“, warnte diese. „Aber wenn Du gerne auf Grollmanns Liste der Erstflachgelegten willst …“
Die Neue wurde rot und lehnte Grollmanns Einladung hastig ab. Grollmann zuckte die Schultern und folgte Bredhorst ohne Begleitung zur After Work Lounge am Ende der Straße.
Als sie die Tür öffneten, schallte ihnen Gelächter entgegen. Einer der Anlageberater hatte eine Geschichte über wütende und verzweifelte Kunden erzählt, deren Altersvorsorge im schwarzen Loch der insolventen Großbanken verschwunden war. Keine Konkurrenz, urteilte Bredhorst. Grollmann im Schlepptau schob er sich in die Nähe des Assistenten der Geschäftsführung, der jeden Abend vorbei kam und rasch herausfand, wer die meisten Punkte machte.
„Hundertzwanzigtausend zu sechseinhalb!“, schnitt er Grollmann gegenüber auf, gerade laut genug, dass der Assistent es hören musste. Der ließ leider nicht erkennen, ob er ihn wahrnahm. „Und eine Police über Hundertfünfzig dazu“, setzte Bredhorst nach. „Das bringt mir knappe zwanzigtausend!“
Nun drehte sich der Assistent zu ihm um und musterte ihn wortlos. Bredhorst wurde unsicher.
Er wunderte sich, als Grollmann ihn zur Seite zog und zischte: „Mann, hast du denn das Memo nicht gelesen?“
Welches Memo? Jeden Tag prasselten Emails mit Informationen der Geschäftsleitung auf die Angestellten ein. Neue Richtlinien für den Abbau von Überstunden, für die Abrechnung der Dienstreisen, den Umgang mit Mitarbeiteranleihen, der Nutzung der Kaffeemaschinen. Dementis zu den neuesten Fusions- und Umstrukturierungsgerüchten, zu den Zeitungsartikeln über die drohende Pleite, den Börsenberichten über giftige Hypotheken-Pakete. Dies ließ nur eine Möglichkeit zu: Anklicken, ersten Satz lesen, löschen.
„Welches Memo, Grolli?“ Ein Stein wuchs in seinem Bauch.
„Das Risk Threshold Limit ist gesenkt worden. Auf null, mein Lieber, auf Zet- e - er- o.“
Der Stein wuchs weiter. „Aber letzte Woche wurde doch erst gesenkt, auf zwei Prozent!“
Grollmann nickte bedeutungsvoll. „Und heute Morgen wieder.“
Der Stein wurde zum Felsen. Diese Hypothek an Miesner, die mit Sicherheit platzen würde, war der letzte faule Kredit, der ihm noch fehlte, um die zwei Prozent voll zu machen. Damit hätte er bewiesen, dass er Risiken nicht scheute und die Bank keine Einnahmen aus Krediten verlor. Und er legte den Grundstein für seine nächste Beförderung, zumindest aber für ein Verbleiben in der Bank, wenn die Fusion kam. Aber vielleicht trat das Risiko gar nicht ein. Wenn Miesners Mutter noch lange lebte, Pflegegeld bezahlt wurde, wenn der Sohn mindestens bis siebenundzwanzig studierte, wenn die Kosten für die Renovierung nicht explodierten, wenn …
Bredhorst seufzte. Als er aufblickte, bemerkte er viele triumphierende Blicke, die ihn ärgerten und ein paar mitleidige, die ihn schmerzten.

Nur vier Monate später fand Bredhorst den Namen Miesner in seinem Online-Kalender. Er schluckte. Das konnte nur eines bedeuten. Es gab Probleme.
Miesner erklärte ihm mit einem Zittern in der Stimme, dass seine Mutter gestorben war.
Gau. Das war der Gau.
Bredhorst sog die Luft ein. „Mein Beileid“, murmelte er pflichtschuldigst, senkte kurz den Kopf und schüttelte Miesner die Hand. Ein trauriger Blick mit einem angemessenen Nicken für die Ehefrau. Miesner schlug bedrückt vor, die Lebensversicherung zu kündigen, wegen der hohen Beiträge. Das hatte gerade noch gefehlt. Eine Police, die vor Ablauf eines halben Jahres gekündigt wurde, würde ihn seine Prämie kosten. Er musste Zeit gewinnen. Er tippte wahllos, aber hastig auf seiner Tastatur, blickte grübelnd auf den Bildschirm, der nichts zeigte, und gab vor, immer neue Zahlungsmodelle durchzurechnen. Manchmal schüttelte er den Kopf, blätterte in den nutzlosen Papieren auf dem Tisch und gab dann wieder neue Zahlenspiele in den Computer ein. Schließlich seufzte er laut auf. An Miesners Gesicht las er ab, dass dieser den Mut verlor. Es war Zeit für den Strohhalm.
„Die Rente Ihrer Mutter wird noch zwei Monate weitergezahlt, nicht wahr?“ Er zwinkerte Miesner mit beiden Augen zu. Miesner nickte verwirrt.
„Gut“, Bredhorst notierte sich ein paar Zahlen auf einem Zettel, „dann haben wir ja noch ein wenig Zeit, um eine Lösung zu finden.“
Miesner sah ihn zweifelnd an.
„Nur keine Panik, Herr Miesner, ich habe schon ganz andere Probleme gelöst.“
Bredhorst nickte nachdrücklich solange, bis sich das Nicken verselbstständigte und sowohl Miesner als auch seine Frau infizierte.
„Lassen Sie mir ein wenig Zeit, ein paar Alternativen durchzurechnen und meinen Chef weich zu klopfen.“
Sichtlich dankbar nahm Miesner Bredhorsts scheinbaren Optimismus auf.
„Ich melde mich dann bei Ihnen.“ Bredhorst stand auf, streckte Miesner die Hand hin, drückte sie fest, die von Frau Miesner etwas weniger fest und dirigierte beide zur Tür seines Büros. Sorgenvolle, schadenfrohe, neugierige Blicke aus den Glaskästen der anderen Kollegen trafen ihn stechend wie Eisregen.

Rolf und Klara hielten sich noch an den Händen, als sie bereits ihr Auto erreicht hatten. Sie blieben stehen. „Meinst du, er findet eine Lösung?“, fragte Klara.
Rolf sah sie an. „Ich hoffe es.“ Aber er hörte selbst, dass seine Stimme nicht hoffnungsvoll klang.
Klara rannen ein paar Tränen die Wange herab. „Ich habe gerade die Rosen gepflanzt“, flüsterte sie.
Rolf nahm sie in den Arm. „Vielleicht kann ich die Dämmung noch stornieren."
Klara nickte.
„Und Max kann einen Nebenjob annehmen, das tun andere auch“, ergänzte er.
Klara nickte.
„Und diese teure Lebensversicherung kündigen wir“, entschied er. Klara sah ihn fragend an. „Wenn wir das Haus jetzt aufgeben müssen, brauchen wir sie nicht, und ohne haben wir weniger Belastungen.“
Klara nickte. „Ich mag den Geruch von dem alten Ofen so gerne.“

Bredhorst trommelte mit den Fingern auf den Lehnen seines Stuhles. Er hatte gegen eine Anweisung der Geschäftsleitung verstoßen. Er würde die Prämie für die Lebensversicherung zurückzahlen müssen, ebenso wie den Bonus für die überhöhten Zinsen. Er würde am Ende des Jahres nicht zum First Vice Credit Manager aufsteigen. Er würde auf der Liste für diejenigen landen, die bei der Fusion nicht übernommen werden sollten.
Die Tür wurde aufgerissen, Grollmann erschien, breit grinsend. „Probleme?“
Seit er Bredhorst auf seinen Fehler hingewiesen hatte, war Grollmann merklich von ihm abgerückt. Der vorsichtige Grollmann war schon immer bei null Prozent Risikokrediten gewesen, plötzlich war er im Vorteil.
Bredhorst lachte auf. „Nö. Wieso?“
Er würde dem anderen nicht gönnen, ihn am Boden zu sehen.
„Dein Risiko geplatzt?“
Natürlich hatte auch Grolli die Miesners beobachtet, wie sie bedrückt zu ihm schlichen und kaum weniger bedrückt sein Büro verließen.
„Grolli, meine Risiken platzen nur, wenn ich es will. Scher dich an deinen Mist.“
„Relax! Kommste noch mit? After Work Lounge?“
Natürlich würde er hingehen. Es käme einer eingestandenen Niederlage gleich, wenn er das Treffen mied.

Als Bredhorst sehr spät am Abend seine Haustür aufschloss, löste sich all das Adrenalin, dass er aufgestaut hatte, schlagartig auf. Das Betreten seines kleinen Reiches hatte jedes Mal diese Wirkung auf Nick. Im Flur empfingen ihn warme Farben. Ein Duft nach Essen erreichte ihn, das Lachen seiner Tochter drang von oben an sein Ohr. Sofort lief er in das Kinderzimmer.
„Wer schläft denn da noch nicht?“, fragte er mit gespielt drohender Stimme.
Hanna quiekte begeistert auf. „Papa!“
Sie streckte ihm ihre Arme entgegen und lachte ihn an.
Jasmin, die gerade die Decke über ihre Tochter gezogen hatte, drehte sich zu Nick um.
„Gerade noch rechtzeitig! Sag unserer Prinzessin Gute Nacht.“
„Einen Gutenachtkuss für die süße Prinzessin“, Nick nahm seine Tochter in den Arm, „und einen Begrüßungskuss für die schöne Königin.“ Jasmin lächelte ihre Tochter an.
„Schlaf schön, Prinzessin!“
Arm in Arm verließen die Königin und der König das Kinderzimmer.
„Du, im Kindergarten, ...“, begann Jasmin.
Nick nahm sie in den Arm und lächelte sie an. „Das machst du schon“, murmelte er.
Erst später, im Bett, dachte er noch einmal kurz an die Miesners. Am besten für alle wäre es, wenn Herr Miesner ganz schnell seiner lieben Mutter folgen würde. Aus der Lebensversicherung könnte Frau Miesner die Hypothek ablösen. Und dann... Doch energisch schob Nick alle Gedanken an den faulen Kredit zur Seite. Probleme löst man im Büro.

Zwei Wochen später saß Herr Miesner wieder vor ihm. Etwas außer Atem, denn der Fahrstuhl wurde gerade überholt und er hatte die Treppe benutzen müssen. Bredhorst überlegte kurz, ob er Miesner wohl einen Selbstmord nahelegen konnte, der wie ein Unfall aussah, damit seine Frau in dem Haus bleiben konnte. Doch nach einem Blick in Miesners Gesicht sah er davon ab. Miesner wirkte zwar hinreichend deprimiert, doch hatte sich in seine Augen auch ein widerspenstiges Blitzen gestohlen. Die Lebensversicherung wollte er kündigen, hatte er entschieden.
„Wenn wir das nicht tun, verlieren wir das Haus schon jetzt, nicht erst, wenn ich sterben sollte.“
Bredhorst sah Miesner lange an und holte vorsichtig Luft. „Das wäre natürlich eine Lösung“.
Das halbe Jahr war fast um, die Prämie noch nicht gerettet. Ohne die hohen Beiträge für die Lebensversicherung konnte Miesner so gerade eben die Raten zahlen – bis sein Sohn das Studium beendete.
Bredhorst nickte bedächtig. „Gut, Herr Miesner. Ich mache die Papiere für Sie fertig und schicke Ihnen alles zu. OK?“
Damit konnte er die Kündigung bis zur nächsten, entscheidenden sechsten Beitragszahlung verzögern. Miesner nickte langsam, offensichtlich hatte er mit mehr Widerspruch gerechnet.

Bredhorst begleitete Miesner über den Flur zu den Fahrstühlen. Beide dachten nicht mehr an die Reparaturarbeiten, im angeregten Gespräch über die Preise von Drainagearbeiten nahmen sie die Hinweisschilder nicht wahr. Miesner drückte den Knopf und drehte sich wartend zu Bredhorst um. Entgegen jeder Sicherheitsanweisung glitt die Aufzugtür im Rücken von Miesner auf. Dieser spürte den Luftzug und bewegte sich einen Schritt nach hinten. Sein Fuß fand keinen Widerstand, das Bein hing über dem Abgrund. Er ruderte mit den Armen, bekam Bredhorsts Ärmel zu fassen und versuchte sich am glatten Stoff festzuhalten. Rutschte langsam ab. Seine Augen suchten voll Panik einen Griff, einen Halt, eine Rettung und blieben an Bredhorsts Augen hängen. Bredhorst streckte unwillkürlich seine Hand aus, um die von Miesner zu fassen. Doch seine Hand bewegte sich zu langsam. Ein Aufblitzen der Erkenntnis, dass er seine Prämien und seinen Job retten konnte, Unwillen über Miesners verschwitzten Griff auf seinem empfindlichen Seidenanzug, eine innere Sperre zu helfen, wenn sich daraus kein Vorteil für ihn ergab, überdeckten gleichzeitig seinen Impuls, Miesners Arm zu ergreifen. Seine Hand verfehlte den nach hinten wegkippenden Mann um Millimeter.

Miesner schrie und fiel.

Bredhorst beugte sich weiter vor und griff ins Leere. Er hatte es versucht. Das konnten alle sehen, die erschrocken von ihren Stühlen aufgesprungen waren und aus ihren Glaskästen zu ihm hin starrten. Er hatte es doch wirklich versucht. Es war doch keine Absicht dabei gewesen, als er die Hand von Miesner verfehlte, er war doch kein...
Er drehte sich um und erwiderte blass und stumm die verstörten Blicke seiner Kollegen. Sah, wie einer mit dem Handy wählte, hörte von unten Rufe und Schreie der Aufzugsmonteure. Gut. Für ihn blieb nichts zu tun, alles war eingeleitet. Unter den fassungslosen Blicken seiner Kollegen ging er in sein Büro und schloss die Tür, ließ die Rollos herab, sperrte das Starren aus.
Hatten sie ihn nicht anklagend angesehen? Wussten nicht alle um seine Probleme mit Miesner? Konnte er jemals wieder zur After Work Lounge gehen? Würden sie ihn dort schneiden?

Natürlich kam die Polizei, vernahm zum Tod des Schuldners Miesner die Monteure, einige Kollegen und Bredhorst. Lange. Der große, wortkarge Kriminalist ließ sich immer wieder von ihm erklären, was sich am Aufzug zugetragen, was er zur Rettung des Unglücksopfers getan hatte. Schließlich nickte er bedächtig und klappte sein Notizbuch zu.
„Unfall“, konstatierte er, schüttelte Bredhorst die Hand und ging.

„Unfall“, würde Bredhorst den Kollegen sagen, wenn sie versuchten, ihn mit spitzen Bemerkungen in die Enge zu treiben. Auch denen, die schweigend und peinlich berührt wegsahen. Und denen, die Mitgefühl heuchelten und besorgte Fragen stellten. Allen.
Am besten gleich heute, gleich jetzt. Sicher saßen schon alle in der Lounge und hechelten das Geschehene zum x-ten Male durch. Er wusste, dass er keine andere Chance haben würde, den Angriffen zu begegnen.

Der Gang fiel ihm nicht leicht. Zu viele mögliche Gemeinheiten tauchten in seiner Fantasie auf. Die Tür zur Lounge schien schwerer als sonst, die Luft, die ihm entgegenwehte, verbrauchter. Das Gesumme der Stimmen erstarb, als er in der Tür erschien. Alle sahen zu ihm hinüber, stumm, bewegungslos. Bredhorst blieb stehen. Das war ja noch schlimmer als befürchtet. Und der Assistent war auch da. Wollten sie alle gleichzeitig über ihn herfallen?
Einer der Kollegen an einem Ecktisch stellte sein Glas ab und klatschte in die Hände. Andere fielen ein. Sie applaudierten ihm! Alle, alle, applaudierten! Unendlich erleichtert atmete Bredhorst aus. Ging langsam auf die Bar zu. Man machte ihm Platz. Der Assistent stand auf und schüttelte ihm die Hand. Bestellte ihm einen Drink. Niemand sprach ihn auf die Geschehnisse an, niemand stellte Fragen.

In Bredhorst breitete sich ein warmes, erlösendes Siegerlachen aus, das bald auch seinen Mund erreichte.


© Doris Köhler
Kontakt: Doris.Koehler@o2online.de
Kindle-E-Book 2011
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Ani

Nicht mehr die Frau im Schrank :D
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