AW: Fragmente
24. September 2042
Das Wasser streichelte meine Wangen. Ein vertrautes, willkommenes Gefühl, wie wenn man einen guten Freund empfängt.
Mit gleichmäßigen, müden Bewegungen trug ich das Rasieröl auf, dann rührte ich die Rasiercreme an.
Es dauerte eine Weile, bis sich der Schaum bildete. Ich massierte ihn mithilfe des Pinsels ein. Wie ein weicher Flaum legte er sich auf das Gesicht.
Meine Hand glitt zur Badkommode. Ich nahm den Sicherheitsrasierer von der Ablage und begann mit meiner morgendlichen Routine.
Stets sorgte ich dafür, der Erste im Bad zu sein, da meine Rasur mehr Zeit in Anspruch nahm, als die meiner Mitbewohner. Die hypermodernen Infrarotrasierer mögen schnell sein - gründlich sind sie nicht.
An diesem Morgen brauchte ich nur zwei Rasurgänge. Ich betrachtete das durchaus ansehnliche Ergebnis im Spiegel und ließ noch etwas Wasser über die gereizte Haut fließen, ehe ich das Aftershave auftrug.
Im Wohnungsflur war noch alles dunkel, als ich in die Küche ging.
Am Küchentisch startete ich den Tablet-PC und rief sofort die Spielsoftware auf.
Backgammonspieler aus aller Welt waren eingeloggt und warteten auf Gegner. Jemand schlug ein Spiel um 500 Euro pro Punkt (Limit: 20.000) vor, und ich willigte ein.
Es war ein unaufgeregtes Spielchen. Ich überlebte eine frühe Blitzattacke (mit darauf folgender Verdopplung) und hatte ein 5-Point-Holdinggame. Mein Gegner nutzte seinen kleinen Vorteil im Rennen und verdoppelte - zu früh, wie ich fand, und der Computer würde mir später beipflichten. Ich würfelte einen 6er Pasch und verdoppelte meinerseits - er nahm die Verdopplung an und ich gewann knapp. Der Anbieter erhielt 150 Euro Rake, ich bekam 1.850 und wüste Beschimpfungen im Chat als Gratisbonus. Mein Gegner verließ die Seite und ich schmiß den Kaffeeautomaten an.
Ein unspektakulärer Sieg - aber dennoch hatte ich ein gutes Gefühl. Es ist schwer zu beschreiben, vielleicht vergleichbar mit dem ersten Orgasmus am Morgen - der erste Höhepunkt, auf dem man sich gut fühlt und verdrängt, daß es danach nur noch bergab gehen kann.
Ich öffnete das Nachrichtenfenster auf dem Display.
„... so müssen wir aber auch darüber informieren“, erklang die Stimme des Moderators, „daß es sich bei den Demonstranten um eine Minderheit handelt, die sich jenseits von Recht und Grundgesetz bewegt.“
Der Vollautomat ächzte und quälte sich bei jedem Tropfen der braunen Flüssigkeit, die mühselig aus der Brühgruppe hinausfloß. Das Ergebnis sah fast so wie Kaffee aus - und es schmeckte nach Jahre alten Bohnen, abgestanden, und durch einen findigen Mitbewohner, dem zwei Wochen vor Monatsende das Geld ausging, aus einer Grube im Keller zu Tage gefördert.
„Trotz der besorgniserregenden Ereignisse im Berliner und im Frankfurter Bankenviertel als auch der Straßenschlacht in Köln, ruft Bundeskanzler Lindner die Bürger zur Besonnenheit auf.“
Ein Videointerview wurde eingespielt. Der Kanzler, aschfahl und verschwitzt, sagte kampferprobt:
„Wir werden uns unsere Politik nicht von diesen arbeitslosen Chaoten diktieren lassen! Jeder Berliner, jeder Frankfurter und jeder Kölner sollte sich nicht durch einzelne gewaltbereite Extremisten an seinem gewöhnlichen, produktiven und geliebten Tagesablauf hindern lassen.“
Es wurde wieder zurück ins Studio geschaltet.
„Auch sollte nicht unerwähnt bleiben, daß der Präsident des Arbeitgeberverbandes, Martin Raffer, bereits geäußert hat, daß die Aufstände kein Grund zur Krankmeldung sind. Er warnt Arbeitnehmer davor, sich aufgrund der Demonstrationen ein verlängertes Wochenende zu erlauben.“
Ich schloß das Fenster, in dem das Nachrichtenprogramm lief.
Eine Tür öffnete sich und einer meiner Mitbewohner trat in die Wohnküche. Er lachte mich an - ein metallenes, zynisches Lachen. Nicht, daß er mir gegenüber negativ eingestellt gewesen wäre - er konnte nur nicht über seinen Schatten springen. Die wenigsten Leute können das - insbesondere dann, wenn ihr Mensch gewordenes schlechtes Gewissen direkt nebenan wohnt.
„Na, hat Opa dir heute wieder seinen Rasierapparat hingelegt?“, fragte er mich grinsend.
„Uropa“, korrigierte ich ihn, „aber er ist so komisch in letzter Zeit, seit wir ihn mit dem Vodoozauber zurückgeholt haben. Dankbarkeit sieht anders aus, finde ich.“
Er lachte sein gedämpftes, zahnloses Lachen und öffnete die Tür zum Bad. Gerade als er sie hinter sich schließen wollte, fragte ich:
„Bist du heute im Einsatz?“
Er fuhr herum. Sein Blick verdunkelte sich für eine Sekunde. Vielleicht lag‘s aber auch nur am Licht. Es dauerte keine weitere Sekunde, bis er die Contenance zurückgewann - nicht vollständig, aber immerhin.
„Ja“, sagte er und räusperte sich, um es nicht all zu weinerlich klingen zu lassen.
„Alles Gute“, sagte ich und hoffte, daß ich den Kopf nicht all zu sehr gesenkt hatte.
„Ach, die Schweine scheppern `wa einfach weg“, entgegnete er mit einer wegwerfenden Geste - nun wieder der unerschütterliche Bulle, der er sein wollte. Zumindest zur Hälfte.
Nachdem er sich unter der Dusche einen `runtergeholt, seine Halbrasur durchgeführt und sich das Haar dürftig gefönt und die allheilige Uniform angelegt hatte, war die andere Hälfte komplett. Alles Menschliche abgelegt, weggewaschen und weggewichst und dann war es Zeit, wen „wegzuscheppern“, im vollen Bewußtsein, ein bedürfnisloser Diener zu sein.
Spätestens, nachdem er seine Uniform angelegt hatte, konnte man kein vernünftiges Wort mehr mit ihm wechseln - denn dann war er kein normaler Mensch mehr - er war Polizist. Die Fleisch gewordene Ordnung.
Es gab viele Dinge, die Haralds Persönlichkeit ausmachten. Eigentlich war er nicht besonders aggressiv, er war ein netter Kerl, ein Antiheld im Herzen, keiner, mit dem es eine Frau besonders lange aushielt (aber mit wem halten sie‘s schon lange aus?), hatte einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und die Intelligenz, alternative und funktionierende Problemlösungen zu finden - aber all dies galt ihm nichts. Mit all diesen Eigenschaften wollte oder konnte er sich nicht identifizieren, sie waren nicht das Kleid, das er sich wünschte. Er wollte einen Stoiker aus sich machen, einen klassischen Helden - einen, der nicht wichste, keine Sehnsüchte hatte, einen, der nicht selbstständig „fühlte“, nicht selbstständig handelte, einen, der nicht trauerte, nicht weinte, keine Selbstzweifel hatte, sondern der nur für ein ihm überlegenes Kollektiv funktionierte, weil es denn eben seine „Aufgabe“ war, die er höher schätzte, als jede seiner eigenen Regungen.
Eine Ameise, die alles für die Königin tat - und brächte es sie auch um.
Als ich ihm antworten wollte, hatte er die Tür bereits geschlossen. Mein Telephon klingelte, ich nahm ab. Katharina war am anderen Ende zu hören.
„Mein ... mein ... Kater ... ist ... tot“ - Wortfetzen, die nur gepreßt zu hören waren.
„Bist du bei dir zuhause?“, entgegnete ich schnell. Ich sprang auf und ging in Richtung der Garderobe.
„J-j-j-a“, war es langsam, schleppend am anderen Ende zu hören.
„Ok, bleib‘, wo du bist, ich bin in fünfzehn Minuten da - in Ordnung?“
Ich versuchte, so ruhig wie möglich zu sprechen, doch das Sprechtempo wollte sich dem abgeklärten Klang meiner Worte nicht anschließen.
Ich schlüpfte hastig in meine Schuhe, zog mir einen Mantel über (wir haben einen verdammt kalten September - nur das Feuer wärmt dieser Tage) und eilte hinaus.
Die Situation auf den Straßen war dramatischer, als es in der Presse berichtet wurde. Die Straßen waren wie leergefegt. Dumpfes Donnergrollen war aus dem Bereich der Innenstadt zu hören - ein Vorbote, unheilvoll, unentschlossen, wen oder was er verschlingen wollte.
Unregelmäßig fuhren Polizeiautos vorbei, die via Megaphon bekannt gaben, daß alles in Ordnung sei und daß man aus reiner Vorsicht daheim bleiben solle, so man es einrichten könne.
Auch die öffentlichen Verkehrsmittel hatten ihren Betrieb eingestellt, seitdem gestern im Frankfurter Bankenviertel ein verlassener Linienbus in Brand gesetzt worden war.
Innerhalb weniger Minuten erreichte ich Katharinas Wohnhaus.
Die Tür zu ihrem Appartement stand auf. Ich trat ein und schloß die Tür hinter mir. Wohnzimmer - und Badtür standen weit offen. Mein erster Blick fiel ins Bad. Scherben lagen auf dem Boden, jemand hatte den Spiegelschrank zerschlagen. In die Badewanne war Wasser eingelassen. Auf der Oberfläche trieb der leblose Körper Katharinas Kater. Ich atmete tief durch und ging zurück in den Korridor.
Als ich das Wohnzimmer betrat, fand ich Katharina auf dem Boden liegend, weinend und nackt vor.
Eine ganze Weile legte ich mich neben sie, umarmte sie, doch sie schien von meiner Anwesenheit kaum Notiz zu nehmen. Nach gefühlten 30 Minuten fuhr sie herum.
„Was ist passiert?“, fragte ich. Es klang heiserer und tonloser als ich wollte. Männer wollen immer sicher und abgeklärt klingen, wollen ein Fels in der Brandung sein, aber dann sind sie doch wieder nur kleine Jungen, die sich unter der Dusche einen `runterholen und hoffen, daß sie niemand dabei erwischt, weil es ihnen unangenehm sein könnte. Nur die wenigsten von uns sind Mensch gewordene Polizisten.
„Sie ... sie waren plötzlich da ... wollten das Geld eintreiben und ich ...“
„Die Schutzgelderpresser?“, fragte ich.
Sie nickte. „Ich hatte kein Geld da und da haben sie ...“ Sie schluchzte.
...Findus ertränkt, setzte ich im Geiste fort. „Haben sie dir etwas getan?“, fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. „Ich ... ich wollte duschen, als ...“ Sie senkte den Blick. „Aber sie haben mich nicht ...“ Sie beendete den Satz nicht.
Ich ging ins Schlafzimmer und kam mit einigen Kleidungsstücken wieder. Dann half ich ihr, sich anzukleiden und tat mein möglichstes, sie zu beruhigen. Was nicht besonders viel war.
Wir vereinbarten, den Kater irgendwo im Wald zu begraben. Sie hing sehr an dem Tier - er war viele Jahre ihr treuer Begleiter gewesen. Wut stieg in mir hoch, als ich den Leichnam aus dem Wasser barg und ihn provisorisch in einen Karton legte.
„Ich werde zur Polizei gehen“, sagte ich.
Sie lächelte müde. „Weißt du, warum ich mich in dich verliebt habe?“, fragte sie tonlos. Die Antwort gab sie wenige Sekunden darauf: „Trotz allem Zynismus bist du immer noch naiv.“
Ich nickte und holte meine Geldbörse aus der Innentasche und warf meine Credcard auf den Tisch.
„Wenn sie wiederkommen sollten“, sagte ich, „gib‘ ihnen meine Credcard. Da sind noch 10.000 Euro drauf. Das ist nicht die Welt, aber das sollte ihre Forderungen befriedigen.“
Sie nickte, steckte die Credcard ein und antwortete nicht.
„Ich äh“, sagte ich zögerlich, „bin in spätestens zwei Stunden wieder da, wenn Du magst. Soll ich Deine Ma anrufen?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich werde sie selbst anrufen ... Gleich. Bitte komm‘ wieder.“
Ich nickte und gab ihr einen Kuß.
Als ich auf die Straße trat, fischte ich meine E-Zigarette aus der Manteltasche. Der Akku war am Vortag stark beansprucht worden - ich war froh, daß er noch etwas geladen war.
Die Gewalt auf den Straßen schien zuzunehmen. Die Polizisten waren zu Wasserwerfern übergegangen und einige Viertel waren kaum noch aufsuchbar.
Das Schutzgeldgeschäft hatte sich in den vergangenen zehn Jahren vollends entfaltet. Es wurde gedroht, geprügelt und hier und da mal gemordet - teils auch unter stiller Duldung einiger Polizisten.
Das Geschäft mit der Angst ist eine der verheerenden Folgen der Dumpinglohngesellschaft, gegen die die Leute heute demonstrieren - die Menschen haben nicht genug Geld, um über die Runden zu kommen und sie haben nicht den Zugang zum ersten Arbeitsmarkt - also verdingen sie sich als Handlanger der Mafia und ähnlicher Bandenstrukturen.
Daß hier und da die Polizei, motiviert durch einige 100.000 Euro, ein Auge zudrückt, ist weithin bekannt.
Bis zur nächsten Polizeidienststelle war es ein weiter Weg. Es war gespenstisch ruhig - das dumpfe Donnergrollen war einem leisen Wimmern gewichen, einem Erstickenden gleich, der sich ein letztes Mal gegen seinen Würger auflehnt.
Es gibt Tage, da fühlt man sich schlecht und beklagt sich darüber, daß man sich schlecht fühlt. Lautstark, unüberhörbar und nervig für jeden, der einem in die Quere kommt.
Dann gibt es Tage, an denen man wütend ist - an denen man, wie es Harald ausdrückte, jemanden „wegscheppern“ möchte.
Aber dann gibt es Tage, an denen man sich leer fühlt. Wie als habe jemand das teure Porzellangeschirr kaputtgeschmissen - man steht davor, sieht die Verwüstung und kann nur noch die Scherben zusammenkehren. Das tut man eifrig und in aufgesetztem Aktionismus - doch wenn die Scherben zusammengekehrt und weggeschmissen sind, steht man vor dem Papierkorb und weiß, daß man nichts weiter wird tun können. Hilflos erträgt man die Zerstörung, die geschehen und das „Opfer“, das unabänderlich erbracht worden ist.
Dies ist ein verheerendes, ein kaltes Gefühl, das einem wie eine Klinge aus Eis erwischt, sich in das Herz bohrt und es zu einer deprimierten Mördergrube macht. Giftig zwar, aber jeder Widerstand ist zwecklos - ist ein Schaden angerichtet, dann ist er durch nichts in der Welt wieder rückgängig zu machen.
Im Polizeirevier wurde ich sogleich in Empfang genommen.
„Ich möchte eine Anzeige erstatten“, sagte ich.
„Soso“, nuschelte der Beamte. „Was machen Sie denn beruflich?“
„Ich bin Freiberufler.“
„Freiberufler“, äffte er nach. Es klang ätzend. „Und was freiberufeln Sie so?“
„Strategiespiele. Schach.“ Schach klingt immer besser als Backgammon - zumindest für den Unwissenden.
Lachen. „Oho, ein ganz feiner, was? Na, was wollen Sie denn anzeigen?“
„Schutzgelderpressung.“
Hätte ich ihm gestanden, letzte Nacht seine Tochter mit K.O.-Tropfen betäubt und mißbraucht zu haben, hätte dies seinen Blick nicht noch mehr verdunkelt jetzt.
„Du, Fred“, rief er in den Raum, ohne seinen Blick von mir abzuwenden, „da will ein Freiberufler Schutzgelderpressung anzeigen.“
Lachen. Lauthals. Aus unterschiedlichen Richtungen. Das Gesicht schien sich noch mehr zu verdunkeln - aber ich täuschte mich. Als ich mich umdrehte, hatte mich eine Traube an Polizisten umzingelt.
Wie selig ist der Gedächtnisverlust! Als ich wieder zu mir kam, hatte man mich irgendwo in eine Gasse geschmissen.
Langsam rappelte ich mich auf. Meine Stirn hatte einen Cut abbekommen. Offenbar war einer der Bullen besorgt genug, die blutende Stelle provisorisch zu verbinden - wie fürsorglich! Aber ein halbtoter Schwerverletzter macht immer Ärger.
Meine vorderen Schneidezähne waren ausgeschlagen, der Mund blutig. Ich spuckte aus. Als ich prüfen wollte, ob meine Brieftasche noch da war, merkte ich, daß mein linker Mittelfinger schmerzte. Höchstwahrscheinlich gebrochen.
Meine Brieftasche hatten sie entwendet.
Ich torkelte weiter durch die Straßen.
Als ich endlich daheim angekommen war, führte mich mein erster Weg ins Bad. Das Wasser streichelte meine Wangen - nur, daß es jetzt wie ein Stich wirkte. Ausgeführt mit größter Heimtücke. Im Becken sammelte sich Blut, nur um Sekunden später mit dem Wasser eine Verbindung einzugehen, und dann im Abfluß zu versinken. Eine kurze Liaison - zeitlos, heftig, aber genauso böse und verheerend.
Aus Destruktivität kann nichts Produktives entstehen. Allein das Wasser hat eine reinigende Wirkung - möge es das Destruktive hinwegspülen, filtern, die Zerstörung an sich binden, nur, um sie loszulassen, zu entschärfen, und schlußendlich zu vernichten.
Wasser ... nicht zerstörend, sondern neutralisierend. Hinwegziehend, in sich aufsaugend - alles, restlos. Die Demonstranten dort draußen auf den Straßen, all die Arbeitslosen, die Anarchisten und Kommunisten, die Demokraten, die Friedenstauben - hinweggeschwemmt, „gereinigt“, neutralisiert im Wasser. Kater Findus in seinem dunklen Kasten - hinweggeschwemmt, „gereinigt“ neutralisiert.
Beide Male, um etwas zu „erhalten“, das verflucht ist zur Destruktivität.
Ich hätte zum Arzt gehen sollen. Als ich zurück in die Wohnküche torkelte, merkte ich, daß ich mir ebensogut eine innere Blutung zugezogen haben könnte.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Harald platzte in den Raum, aggressiv, den See Genezareth in den Augen.
„Du verfluchtes Dreckschwein!“, brüllte er, tränenverzerrt, mehr ein Weinen als ein Schrei, kehlig, hart, metallern. Er trat gegen einen Stuhl.
„Du verfluchtes Arschloch!“, brüllte er wieder.
„Hab‘s kapiert“, sagte ich, eine lässige Handbewegung vollführend, „ich bin richtig doll verflucht.“
Er packte mich am Kragen und schubste mich, ohne den Griff zu lockern, mit dem Rücken gegen den Küchentisch.
„Weil du verfluchter Mistkerl“, er schluchzte, bemerkte es aber nicht in seiner Wut, „eine Schutzgelderpressung anzeigen musstest, haben sie mich gefeuert! Weil ... du bei mir wohnst! Ein notorischer Querulant!“
Er verpasste mir einen harten Schlag ins Gesicht, seine Faust landete in der Magengrube.
Als ich mich vor Schmerz krümmte, landete die Spitze seines Springerstiefels direkt auf meinem Mund. Vor Schmerz laut aufschreiend fiel ich zurück, verschluckte dabei einen Teil meines ausgeschlagenen Zahnes.
Er traktierte mich weiter, aber zum zweiten Mal wurde ich ohnmächtig.
Das Nächste, was ich sah, war das Gesicht von Jerome, einem weiteren Mitbewohner, der mich ohrfeigte, was, im Vergleich zu der vorherigen Prügel, wie zärtliche Streicheleinheiten wirkte. Er schüttelte mich.
„Boah, Alter, komm‘ mal klar!“, rief er.
„Wird gemacht, Chef“, brachte ich mühselig hervor.
Jerome hatte Verbandszeug dabei und behandelte mich. Es ist immer gut, einen Medizinstudenten im Haus zu haben - fast eine Flirtempfehlung, aber nur fast.
Als er mich notdürftig verarztet hatte, sagte er: „Mann, damit mußt du ins Krankenhaus! Warst du bei einer Demo?“
Ich rappelte mich auf und ging zur Kaffeemaschine.
„Mittlerweile“, erwiderte ich, „komme ich mir so vor, als wäre ich die ganze Woche auf einer Demo gewesen. Falls du einen Sparringspartner brauchst, der viel einsteckt und sich wenig wehrt - ich bin dein Mann.“
Jerome lachte. Ein silbernes, freundliches Lachen. „Alter, so viel, daß dir die blöden Sprüche ausgehen, kannst du gar nicht abkriegen.“
„Ich mach‘ uns `nen Kaffee“, sagte ich, während ich den Inhalt der Kaffeedose dahin füllte, wo heute Morgen die alten Bohnen gewesen waren.
Während die Maschine das Wasser aufheizte, rief ich bei Katharina an. Ihre Mutter ging ans Telephon. „Sie schläft jetzt“, sagte sie. „Hat sie sich einigermaßen erholt?“, fragte ich.
Ja, antwortete ihre Ma, aber sie habe nach mir gefragt. Sich Sorgen gemacht. Ich sagte, daß die Sorgen berechtigt gewesen seien, und erklärte knapp und kurz - die schmutzigen Details und meine anstehende Bereicherung der Zahnarztzunft auslassend - was geschehen sei.
„Du klingst, als hättest du einen Korken zwischen den Zähnen“, sagte sie. „Ich wäre froh, wenn das überhaupt noch möglich wäre“, entgegnete ich und sie verstand. Jedenfalls so viel, daß sie nicht weiter nachfragte.
Als ich auflegte, warf mir Jerome einen vorwurfsvollen Blick zu.
„Ey, Alter, guck‘ dir die Scheiße an!“
Er zeigte mir die Kaffeetasse, die er sich gerade gekocht hatte. Die Brühe sah ziemlich grün und schlammig aus.
„Du hast das gesamte Weed, das wir noch hatten, in die Kaffeemaschine geschüttet!“
Eine Sekunde lang musterte ich Jerome verständnislos, dann fing ich aus vollstem Herzen zu lachen an.
„Alter, das ist nicht witzig! Ich hab‘ 15.000 für das Zeug bezahlt!“
Ich konnte nicht aufhören, zu lachen. Er schüttelte mit dem Kopf.
„Du gibst mir das Geld wieder!“
Er ging in Richtung Bad. „Ich hab‘ da irgendwo noch eine kleine Zange - du hilfst mir, das Teil aufzuschrauben und das Weed daraus zu holen, klar?“
Er wartete nicht auf meine Antwort, sondern ging ins Bad. Wir brauchten die Polizei und den Notarztwagen gar nicht mehr zu alarmieren - Jeromes Schrei versetzte das ganze Haus in Angst und Schrecken.
Harald hatte sich ein Bad eingelassen. Möglicherweise hatte er ursprünglich wirklich nur die Absicht, zu baden, als er das Maniküreset gesehen und es ihn auf dumme Gedanken gebracht hatte. In jedem Falle hat er sich mit allerhand Werkzeug heftig zugerichtet. Er muß wohl schon einige Stunden dort gelegen haben. Der Notarzt konnte nur noch seinen Tod feststellen, und ihn dann aus der Badewanne fischen lassen.
Menschen, die wütend sind, machen eine Menge dummer Sachen. Und Helden, die wütend sind, machen noch dümmere Sachen - vor allem dann, wenn sie die Gewißheit haben, Helden zu sein.
Und wieder verliert sich alles im Wasser - hinweggespült, unwiderbringlich. Ich sitze im Wohnzimmer, kann nicht reden, nicht schreien, nur schreiben. Ich glaube, ich werde gleich das Porzellangeschirr aus dem Schrank holen und es zertrümmern, bloß, damit ich mir die Verwüstung ansehen, dem Gefühl ein Bild geben kann.
Vielleicht frage ich auch die Nachbarin, ob ich bei ihr ein Bad nehmen kann. Ein reinigendes Bad ... streichelnd, ölig, barmherzig.