A. Weltenbruch

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Tattoo

„Jetzt geh bitte, du kriegst kein Tattoo.“
„Ich hab doch hier die Einverständniserklärung. Da – sehen Sie? Meine Eltern erlauben mir das.“
„Hier kriegt niemand unter 18 ein Tattoo – und jetzt geh.“
„Nur ein kleiner Schwan auf den Arm.“
„Ab 18. Wie gesagt. Komm in drei Jahren wieder.“
„Ach, kommen Sie schon.“
„Verpiss dich!“
Gregor stand draußen und wartete ab, bis die kleine Streitigkeit ein Ende genommen hatte und die junge Frau das Tattoostudio verlassen hatte. Er war mehr als zufrieden, gute Lage, verdammt guter Ruf. Es sah sehr vielversprechend aus. Ja, dies würde er gerne übernehmen. Er trat ein und sah sich dem alten Besitzer gegenüber. Blass war er, also zumindest die Hautstellen, die nicht von Farbe bedeckt waren. Die besten Jahre lagen bereits weit hinter ihm.
„Guten Tag, ich komme wegen des Studios – es steht doch zum Verkauf, oder?“, sagte Gregor halblaut, versuchte so entschlossen wie möglich zu wirken, um die Aufmerksamkeit des Alten auf sich zu lenken. Langsam sah dieser auf. Seine blaugrauen Augen musterten Gregor neugierig.
„Tag... direkt zur Sache kommen, was? Naja... Sie... Lassen wir das Siezen – so alt wie ich ausseh, werd ich nicht. Du hast ja die Anzeige gelesen. Bist nicht der einzige, …bei weitem nicht, nein.“, der Mann machte eine Pause und lächelte kurz. „Später kommen noch weitere. Damit wir uns recht verstehen – ich verkauf das hier nicht wegen des Geldes. Ich will einen würdigen Nachfolger.“
Gregor nickte bedächtig. „Natürlich, natürlich – der Ruf geht ja weit über die Grenzen des Landes hinaus.“ Gregor macht eine kurze Pause, dachte einen Moment nach. „Wenn ich fragen darf: Wieso?“
„Was? Was wieso?“
„Wieso geben Sie... wieso gibst du das hier auf? Siehst ehrlich gesagt nicht wie jemand aus der frühzeitig in Rente geht. “
Der alte Mann lachte bitter und zündete sich eine Zigarette an. „Ich und die Sargnägel feiern bald goldene Hochzeit – hab ein vorzeitiges Geschenk bekommen, drei Monate noch, vielleicht auch sechs, wenn ich Glück habe. In zwei Wochen bin ich weg und lieg irgendwo am Strand.“
Gregor war sich nicht sicher, was er sagen sollte. Es schien ihm für den Moment am angebrachtesten, einfach zu schweigen.
„Kein Problem, kein Grund nicht mehr zu sprechen, bin ja selbst Schuld. Und irgendwie... wie auch immer. Also. Zuerst einmal: keine Kinder, keine Jugendlichen. Die sind zu jung für Tattoos. Ist 'ne Schande. Sind auf die auch nicht angewiesen; kommen genug Leute, wenn wir unseren Job richtig machen.“ Einen Augenblick lang herrschte Stille und Gregor nickte bekräftigend. Damit konnte er gut leben.
„Also die Kunden kommen hierher, warum?", fragte der Alte rhetorisch, um sich gleich darauf die Antwort zu geben, "Aus zwei Gründen. Zuerst einmal: Wir erfüllen Erwartungen. Wir machen alle Tattoos, überall hin. Tabus gibt es keine. Auch Tattoos, die andere nicht machen würden, beziehungsweise die... besonders sind, machen wir. Diese ganzen Tattoos mit diesem hanebüchenen Aberglauben, verstehst du.“
„Ja, das lockt wohl doch ein paar Leute an“, bekräftigte Gregor den Alten.
„Mundpropaganda ist hier das Stichwort. Im ganzen Staat macht niemand diese berüchtigten Tattoos – den Skin Wyrm, die Pestmaske, den toten Adler. Ach, du kennst sicher die Geschichten.“
„Kommen wirklich so viele nur wegen diesen Tattoos?“
„Ein Drittel unserer Kundschaft macht es sicher aus. Und die zahlen extra. Wir schicken sie dann in das Hinterzimmer, um dem ganzen eine Art verbotenen Touch zu geben.“ Der Alte lächelte verschmitzt. „Willst du es machen?“ „Auf jeden Fall“, meinte Gregor begeistert.
Die Ladenglocke klingelte und ein junger Mann Anfang zwanzig trat herein. „Dann mach mal“, sagte der Alte und stellt sich abseits und beobachtete das Ganze. Der Kunde war dünn und schien nicht ganz in das Bild eines typischen Tattooträgers zu passen. Er trug ein teures Hemd und wirkte wie ein klischeehafter Medizinstudent mit einem Zahnpastawerbungslächeln. Er trat, leicht schuldbewusst dreinblickend, näher heran. Es schien, als würde er nach etwas verbotenem Fragen wollen. Der Alte kannte diesen Blick.
„Abend, ich...", der Kunde schien nach den richtigen Worten zu suchen, "ich möchte ein spezielles Tattoo. Eines was man nicht überall bekommt, verstehen Sie?“
„Dachten Sie an etwas Bestimmtes?“
Der Kunde öffnete den Manschettenknopf an seinem linken Hemdsärmel und schob den Stoff nach oben, zeigte auf eine Stelle und sagte:
„Die Pestmaske will ich haben, hier auf den Arm, Sie wissen schon welche.“
„Nun… wir machen solche Tattoos nicht für jeden, wissen Sie? Sie müssten etwas mehr bezahlen.“
„Natürlich – kein Problem. Machen Sie es?“, fragte der Kunde.
Kurz sah Gregor zum Alten, dieser nickte stumm.
„Natürlich, gehen sie schon mal nach da. Da ist das Hinterzimmer. Sie verstehen schon. Ich komme gleich nach.“
Der Kunde ging in das Hinterzimmer, der junge Tätowierer ging ihm hinterher und erfüllte ihm seinen Wunsch.
Nachdem er fertig war und der Kunde bezahlt hatte, ging Gregor zum alten Mann.
Dieser winkte ihn zu sich heran.
„Komm mit.“
Der alte Mann ging voran und führte beide in einen anderen Raum. Es schien eine Art Lagerraum zu sein, an dessen Wänden Schränke, Kommoden, Regale standen.
„Ich sagte: Es gibt zwei Gründe, warum die Leute herkommen. Zwei“, murmelte der alte Mann und öffnete verschiedene Schubladen, suchte etwas. „Warum tätowiert man normalerweise nicht die Pestmaske? Kennst du die Legende?“, fragte er Gregor und zog einen Gegenstand aus einer der Schubladen. Er hatte es gefunden. „Angeblich... angeblich stirbt man“, sagte Gregor.
„Wodurch?“, fragte der alte Mann und drückte Gregor den Gegenstand in die Hände.
Mit Blick auf den Gegenstand sagte Gregor: „Pistole." Der Alte lächelte mysteriös.
Der Revolver wog schwer in Gregors Griff. „Der erste Grund warum die Leute herkommen war, dass wir Erwartungen erfüllen. Der zweite Grund ist, nun ja, eigentlich derselbe. Dinge müssen auch real werden, sonst verschwindet irgendwann der Aberglaube.“
Eine Pause entstand.
„Also. Bist du der Richtige?“ Gregor nickte. „Mach's in irgendeiner Gasse.“
 
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Mr B.

Tassenmörder
Sprechprobe
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AW: Tattoo

Interessante Geschichte, einzig die Sache mit dem halben Gedanken stört mich. Man kann einen Augenblick, einen Moment oder eine bestimmte Zeit warten aber ein Gedanke ist nichts, was sich zum Messen der Zeit eignet. Ansonsten gibt es nix zu meckern, mich würde eher interessieren was die anderen Todesursachen sind
 

Nee

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Sprechprobe
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AW: Tattoo

Ich kann mich Georg nur anschließen, interessante Geschichte. Gefällt mir sehr gut. :) Bei der vielen direkten Rede ist deine Formatierung sehr angenehm zu lesen.
Vielleicht könnte man daraus auch einen Shorty basteln?

Wo ich gestockt hab war: "Vor Gregor breiteten sich unzählige Regale, Kommoden, Schubladen aus." Da drängt sich mir ein Bild von umgekippten, im Raum verteilten Schubladen auf.
 

A. Weltenbruch

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AW: Tattoo

Vielen Dank für das Lob :) Die aufgefallenen Stellen hab ich geändert. Wegen dem Shorty bin ich mir etwas unsicher, da ich mich auf dem Terrain noch nicht so sicher fühle. Vielleicht in einiger Zeit, aber wenn jemand möchte, darf er die Geschichte gerne vorher umwandeln :)
 
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