Matze

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Als Adept von Johannes Gensfleisch borge ich mir seine beweglichen Metall-Lettern. Nie habe ich etwas Eigenes geschrieben, alles ist compiliert. Ich bin ein melancholischer Schrotthändler: Aus Abfällen zimmere ich meine Ansichten. Mich interessieren die tragikomischen Momente, in denen sich eine hochfliegende Kultur–Boheme und die Alltagsnormalität in die Quere kommen. Alles ist drin, aber nichts paßt zusammen. Die Sprache hinkt und klemmt an allen Ecken und Enden. Das ist ein trauriges, aber mein liebstes Spiel. Ein Spiel fast ohne Regeln. Wie bei jedem Spiel ist das einzig Wahre das Spiel selbst.

Schon früh war ein ausgeprägtes Interesse an Literatur vorhanden. Ich habe als Pennäler systematisch die Klassiker gelesen und mich gleichzeitig mit zeitgenössischen Autoren auseinandergesetzt. Meine Begeisterung für Literatur ist sehr früh von einer fast atemlosen Verzückung für Heinrich von Kleist geprägt worden, was bis heute ganz sicher meine Vorlieben für zeitgenössische Autoren, die ich mag, und andere, die ich weniger mag, beeinflußt. Ich wurde als Leser zum Essayisten, und ich war ein Leser aus Notwendigkeit. Im Anfang war nicht das Wort, am Anfang war das Licht. Der Urknall, der das Universum vor etwa ca. 14 Milliarden Jahren schuf, war eine Explosion strahlender Energie. Unsere "Licht essenden" Körper sind demnach eine Ansammlung gespeicherte Lichtenergie - ein Abglanz des atomaren Feuers in unserer Sonne. Vieles an uns und der Welt ist rätselhaft und dunkel - und die Finsternis unserer Vorurteile bedrohlicher als die der Meerestiefen. Unser Verstand ist uns Licht in dieser Finsternis. Er leuchtet nur schwach - und ist dennoch das wunderbarste aller Sonnenkinder. Das ist die gute Seite meiner prekären Gesundheit. Schon als Kind hatte ich Probleme mit meinen Atemorganen und mußte monatelang das Bett hüten, was furchtbar langweilig war. Also begann ich zu lesen. Wenn man dauernd liest, Geschichten in sich aufnimmt und sich das noch vermischt mit jener Erzähllust, wie sie in meiner Familie herrschte, liegt es nahe, selbst zu schreiben. Ich begann, die Geschichten, die ich las, neu zu als Essay erzählen. Nach einem Aperçu von Jorge Luis Borges ist die Literatur selbst ihr eigentlicher Autor, auch wenn sie unter wechselnden Schriftstellernamen in Erscheinung tritt. Es wimmelt in ihr nur so von versteckten Doppelgängern, hinterhältigen Verschwörern und gewieften Falschmünzern, die ihre heimlichen Botschaften, verschlüsselten Kassiber und verworrenen Dossiers selbst über weit entlegene Räume und Zeiten hinweg austauschen. Dabei zielen die Ränke und Komplotte dieser Finsterlinge allesamt auf jene perfekten Verbrechen, welche die Kriminologen, alias Philologen, dann „Werke†nennen. Und während deren Korpora noch gesichtet und gesichert, klassifiziert und archiviert, kommentiert und musealisiert werden, konspiriert die Bande munter weiter. Von Plot zu Plot und von Blatt zu Blatt häutet sie sich wie eine Schlange, und wie diese beißt sie sich vorzugsweise in den eigenen Schwanz.

In der Bedeutung des Lehnwortes aus dem Französischen, wo der "amateur d' art" den kenntnisreichen, enthusiastischen Liebhaber der Künste meint, bin ich ein Dilettant. Damit möchte ich mich von einem so genannten "Fachmann" unterschieden. Auch Fachfrauen, die ich kennenlernte, halte ich für engstirnig, seelisch unberührbar und inhuman. Der Fachmann hat ausgespielt. Gefragt sind Menschen mit Verknüpfungskompetenz. Vor allem im intellektuellen Bereich. Nicht nur halte ich die Kategorien rechts und links für untauglich in der Kulturpolitik, sondern auch die Zuordnung zu Avantgarde oder Tradition – als handelte es sich hier um zwei Optionen, zwischen denen die Kulturpolitik wählen dürfte. Als Metafiktion bezeichnet man in der Erzähltheorie die Auseinandersetzung der Literatur mit ihren eigenen Vorgehensweisen, die Frage nach dem Status dessen, was sich überhaupt als wirklich bezeichnen lässt. Das ist keine leichte Frage, und noch viel weniger leicht sind die Antworten zu geben. Ich bin mit Leidenschaft dafür, daß Künstler sich mit grandioser Einseitigkeit auf das konzentrieren können, was sie spannend finden – und daß sie den Rest für völlig belanglos halten dürfen. Mit der gleichen Hartnäckigkeit bestehe ich darauf, daß die Kulturpolitik das nicht darf. Die Kulturpolitik muß die Tradition genauso ernst nehmen wie die Avantgarde – und umgekehrt. Deswegen wäre mir außerordentlich unbehaglich, wenn die großen politischen Lager in Deutschland sich in einer Mischung aus Übermut und unzureichender Aufklärung für eines dieser beiden großen Felder – Avantgarde oder Tradition – als heimliche Schirmherren exklusiv verantwortlich fühlen würden. In der großen Zeit des Bildungsbürgertums war diese Verbindung vielleicht lebendiger.

Von den Print–Medien kommend habe ich als Schwarz/Weiss–Mann mein ganzes Leben der Schrift gewidmet, den Buchstaben und Zeichen, die keine Halbtöne kennen. Leitartikel sind nicht ohne. Schwieriger aber schon eine Kritik, ein historischer Aufsatz. Noch schwieriger eine Reportage. Dann kommen die Glossen, Kolumnen, das ist schon ziemliche Kunst. Der Zeitungskünste höchste aber ist: der Essay. Warum? Weil der Essay nichts erzählt und nichts bedenkt, weil er im Gegensatz zur Glosse oder Kolumne keine Pointe kennt und keine Moral von der G’schicht, weil der Autor in jeder Zeile gegenwärtig und doch am Ende zwischen den Zeilen verschwunden sein muss. Weil ein Essay ein textlicher Schwebezustand ist, ein vages Nichts, das exakt alles enthält: Leitartikel, Reportage, Kritik, historische Betrachtung. Dieser Prozess, sein Geheimnis, aus intensiver Welt- und Selbstwahrnehmung einen Text im Tone völligen Unbeteiligtseins herzustellen, läßt sich auf keiner Journalistenschule lernen. Mein oberstes Ziel ist zugleich mein eigentliches Problem: die optimale Lesbarkeit. Der Leser soll durch einen Wald voller Lichteinfälle laufen, nicht durch Betonwüsten in der Vorstadt. Mein Leben ist eine Reise in die Welt der Zeichen, Buchstaben und Symbole. Natürlich ist das Leben in Farbe, aber Schwarz/Weiss ist realistischer.

Weil mein Leben alles andere als aufregend verlaufen ist, halte ich es nicht für nötig, über mich zu schreiben. Die Vorstellungskraft eines Essayisten muß über die engen Grenzen der eigenen Existenz hinausreichen. Das Schreiben ist für mich ein Akt des Erkundens, mit dem Ziel, das Fremde und Andere besser verstehen zu können. Der Drang des Entdeckens führt dazu, daß ich mich weder auf die Erzählstimme beschränke noch auf die Perspektive des Angehörigen einer Minderheit. Meiner Meinung nach ist ein Essayist weder Politiker noch Sprecher für irgendeine Sache, ihm muß unabhängig von Ideologien die totale Freiheit der Imagination zustehen. Die einzige Moral eines Essayisten ist ein guter Satz. Alle Literatur ist autobiographisch, denn nichts ist so autobiographisch wie die Phantasie. Dessen ungeachtet gibt es fiktionale Texte, die zudem thematisch eng mit der Vita des Schreibenden verbunden sind. Und dann sind da einige nichtfiktionale Gattungen, die eine eigene Zwitterform bilden. Briefe gehören dazu, Tagebücher, Aufzeichnungen. Diese Textsorten stehen nicht unter dem Anspruch, Kunst zu sein, auch wenn sie oft als wunderbare Prosa bestehen können. Das existenzielle Schreiben kann man bei als moralische Selbstbehauptung beschreiben, z.B. in Michel de Montaignes Rückzug in sein offenes Projekt der »Essais« sieht. Was ich an Montaigne schätze, ist seine vorurteilsfreie Menschenbetrachtung und sein liberales Denken. Mit dem Begriff 'Essay', zu Deutsch in etwa ''Versuch“, distanzierte sich der Meister bewußt von der Wissenschaft, seine ''Versuche'' sind vielmehr von subjektiver Erfahrung und Reflexion geprägte Erörterungen. Für mich bedeutet eine geistreiche Abhandlung eine Herausforderung meiner stilistischen und gedanklichen Fähigkeiten. Ich versuche mich dem Gegenstand der Überlegungen zu nähern und ihn aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Historisches Denken ist eine vielfältig einsetzbare Software, die in Wirtschaft und Politik wie auch im Medien– und Kulturbetrieb ein vertieftes Verständnis aktueller Probleme und Konflikte ermöglicht. Vielleicht gelingt es mir, der literarischen Kunstform des Essays eine aktuelle Variante abzugewinnen. Essays tendieren dazu edler, belesener und anspruchsvoller als Romane zu sein - es gibt kein essayistisches Äquivalent zum 'populären Roman'. Selbst wenn sie in einem perfekt-lässigen Stil verfasst sind, wird man in ihnen halb verborgene Zitate oder Anspielungen finden, die dazu dienen, den schlauen Leserschichten zu schmeicheln oder sie vielleicht zu langweilen. Als Übungen des Innehaltens, der Erkundung und experimentellen Selbstmultiplizierung sind sie wie Romane - vielleicht sogar mehr. Man könnte sogar sagen, der Roman strebt die Qualität eines Essays an, und es gibt sicher nicht wenige Romanciers, die auch Essayisten waren. Man denke nur an Eliot oder Henry James, Woolf, Forster oder Orwell, oder Mann, Sartre, de Beauvoir, Weigoni, Camus u.a.! Möglicherweise irre ich mich auch, jedoch nicht umher, eher auf dem Weg, den der geschätzte Montaigne beschritten hat: frei flottierend. Die Reise geht weiter, die Schreibbewegung geht weiter, und solange das Schreiben den Tod aufschiebt, kann auch das Leben weitergehen. Vollendet ist das Werk, wenn der Essayist es losgelassen, es unvollendet hinterlassen hat.

Wir leben, so heißt es, in der Wissensgesellschaft. Was ist eigentlich Wissen? Unter dem Titel „Über die Schulmeisterei“ kann man bei Michel de Montaigne folgendes lesen: „Ich kenne einen, der, so oft ich ihn frage, ob er dies oder jenes weiß, ein Buch von mir verlangt, um es mir darin zu zeigen, und sich nicht getrauen würde, mir zu sagen, er habe die Krätze am Hintern, ohne auf der Stelle im Lexikon nachzuschlagen, was Krätze ist und was Hintern.“ Um zu verdeutlichen, was er sagen will, fügt Montaigne erläuternd hinzu: „Wir nehmen die Gedanken und das Wissen anderer in Obhut, und das ist alles. – Wir müssen sie uns aber zu eigen machen.“ Diese Montaignesche Unterscheidung erscheint mir weg weisend: der Gegensatz zwischen totem Buchwissen und einer lebendigen, neue Informationen, Methoden und Perspektiven ins eigene Selbst– und Weltverstehen integrierenden Intelligenz. Was Wissen erst wirklich vital macht ist die Fähigkeit, selbständig mit ihm umzugehen.

Jedes öffentliche Interesse schafft etwas Verschwiegenes, das hinter der Grenze dessen liegt, was mitgeteilt werden kann. Schwarze Löcher der Kommunikation. Blogs und Foren sind mittlerweile der Tummelplatz anonymer Heckenschützen. Längst sind es nicht mehr rechts- oder linksradikale Spinner, die sich in Verschwörungstheorien, Verleumdungen und Beleidigungen üben. Diese Leute haben der Masse an Schreibtischtätern, die sich heute hinter Pseudonymen und Kürzeln verbergen, nur Pate gestanden. Ihre Sprache kennt keinen Respekt - ihr fehlt also die Grundlage jeder Meinungsfreiheit.

Heute darf jeder Trottel Tabus brechen und seinen Schwachsinn publizieren, ohne mit seinem Namen dafür gerade stehen zu müssen. Das enthemmt. Der Preis der Demokratie ist eine exponenzielle Vervielfachung der Dummheit - wenn das, angesichts der Unendlichkeit, nicht selbst eine mathematische Dummheit wäre. Zur Dummheit aber gesellt sich im Internet die seelische Verrohung. Moderne heißt chronische Ungewissheit. Gäbe es keine Moderne, brauchte man auch kein Internet. Die Unruhe, so hat es ein alter Mystiker, Thomas von Kempen, einmal ausgedrückt, sei „der Hintern des Teufels“ – eine Formulierung, die Ernst Bloch zu einem Leitmotiv seines Denkens und Schreibens gemacht hat. Warum braucht denn jemand Methoden zum Schreiben?
 

Matze

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Genügt nicht das Lauschen auf eine Eingebung?

Eingebungen sind wunderbar und absolut unabdingbar, aber die meisten erweisen sich bloß als Reproduktionen von Gewohntem. Glücklich, wer das rechtzeitig merkt (auch eine Begabungsfrage). Eine echte Eingebung ist auf ihre Entwicklungstauglichkeit zu prüfen, man beginnt mit ihr zu spielen, und zum Spielen probiert man auch Regeln aus, selbstgesetzte, daraus entstehen dann die beargwöhnten Methoden – aber das Spiel führt auch in unbekannte Situationen, auf die zu reagieren ist. Dabei werden wiederum Eingebungen provoziert. Das Ganze dient einzig dem «Produktionsapparat» des Autors. Es ist seine Privatsache. Um das Endergebnis wahrzunehmen, brauchen die Hörer nichts über diesen Herstellungsprozess zu wissen. So wenig wie über die Grundierung einer Leinwand, Berechnungen von Proportionen, technische Hilfswerkzeuge und Zusammensetzungen von Farben bei einem alten Gemälde. Wir haben die Kunst, um an der Wahrheit nicht zugrunde zu gehen. Kunst ist der Katholizismus des Intellektuellen, der Wunschglauben an ein Nachleben.

Mein liebster „Schrottplatz“ ist www.vordenker.de. Dort findet sich das von mir lektorierte Projekt Kollegengespräche. Als Rollstuhlfahrer habe ich das Glück, in A.J. Weigoni einen Betreuer zu haben, der mich fordert. Da Weigoni die "Drecksarbeit" für mich erledigt, unterstütze ich ihn als Lektor. Ich beneide Menschen, die waidgerecht eine Metapher ausnehmen, eine Figur in einem Satz festnageln, sich an Geopolitik oder Neurochemie wagen können, ohne daß ihnen dabei der Schweiß auf der Stirn steht. Ich beneide sie um das Gefühl für die Richtigkeit ihres Tuns.

Wenn ich beobachte, wie sich jemand bückt, um einem anderen zu helfen, glaube ich, daß er die Arbeit aller tut, den menschlichen Job. Ich bewundere diese Menschen, aber ich beneide sie nicht. Paul Celan hat auf die etymologische Verwandtschaft von Denken und Danken hingewiesen.

Mit Schriftstellern ein Interview zu führen, ist schwierig. A.J. Weigoni ist überzeugt davon, daß ein Gespräch zwischen Menschen, die sich nicht kennen, unmöglich ist, Menschen die ein Gespräch führen wollen, sind verdächtig. Weigonis launigen Unterhaltungen mit Journalisten sollten nicht als Kommunikation verstanden werden, sondern als Verweigerungskunst und virtuose Rollenprosa. Deshalb hat sieht Weigoni im Projekt »Kollegengespräche eine eigenständige literarische Form, die sich auch als Inszenierung oder Ritual beschreiben läßt. Er hielt dem jeweiligen Partner nicht einfach ein Mikrofon entgegen, er brachte vor allem seine eigenen Erfahrungen mit ein. Ausgangspunkt der Kollegengespräche war die Rezeption von Literatur im neuen Deutschland. Mit seinen Gesprächspartnern stimmte A.J. Weigoni weitestgehend darin überein, daß man Literatur nicht nur den "Fachleuten" überlassen sollte. Der Begriff ‘Immunität’ hat unsere Weltanschauung, das Selbst– und Weltbild des modernen Menschen, nachhaltig geprägt. Sprache ist demzufolge ein Virus, das sich – von Mund zu Mund, von Buch zu Buch, von Website zu Website – schneller vermehrt, als die Diskurspolizei erlaubt. Das scheint ganz besonders für die Sprache der Infektion selbst zu gelten, von der Semantik der Ansteckung. Dies geschieht umso leichter, wenn die fraglichen Wörter ihrerseits bereits mit Bildern infiziert sind, die ursprünglich nicht der wissenschaftlichen Sphäre entstammen, sondern der poetischen. Kann es eine Sprache zwischen Buchdeckeln geben, die den Lesern nicht auf die Nerven geht?

Für diese Form von Gesprächen nahmen sich die Schriftsteller Zeit. Viel Zeit. Oft mehrere Monate. Mit einem etwas veralteten Medium – dem Briefeschreiben – stellten sie sich Fragen, die auch eine breitere Öffentlichkeit interessierte. Im Laufe der Zeit ergab das allmählich die Form einer journalistischen Gattung, des Interviews, bei dem im günstigsten Fall zwei Insider über das reden, von dem sie mehr verstehen als "Literatur–Wissenschaftler".
Deutschsprachige Literatur als demoskopisches Küchenstück?

Obzwar unter den Zeltschrägen eines gemeinsamen Umschlages, bilden die Schriftsteller dieses Projekts keine einheitliche Gruppe. Es gibt keinen gemeinsamen arspoeticagleichen Ansatzpunkt als den, Literatur anders einzuordnen, um schließlich eine Art literaturkritischer Mutation hervorzuzaubern. Eben durch die Verschiedenheit der Texte, durch die Unvereinbarkeit der gezielten Darlegungen und dank dieser Inkompatibilität werden die Autoren selbst zum Sinnbild der gegenwärtigen Lage der kulturellen Gesellschaft. Der Literaturbetrieb gleicht einem Adler, der in die Lüfte aufsteigt, obzwar er gebrochene Füße hat, die ihm jedwede Landung verwehren. Heutzutage scheint Literatur der Inbegriff des Fragmentarismus, der unsere Zeit ansteckt, dadurch charakterisiert und die typisch fin–de–siècle–belastete Verwirrung und Fassungslosigkeit der Methoden, der existentiellen Werkzeuge zum Ausdruck bringt. Diese Autoren wagen, jeder auf seine Art und Weise, eine Berufung der Methode einzulegen, indem sie eine Berufung der Rhetorik heraufbeschwören. Die alten Fragen der Literatur bleiben erhalten, wie die nach dem Geschlechterverhältnis oder dem Rest Unerklärlichem, das sich der menschlichen Erkenntnis entzieht. Deshalb sollte sich die neue Literatur nicht frontal gegen die Religionen stellen. Aber sie muß die sogar bei Atheisten bislang unzureichend ausgebildete Anschauung stärken, daß Moral und Ethik keineswegs nur über religiöse Überzeugungen funktionsfähig werden. Es geht um eine Erweiterung des literarisches Feldes.

In den Gesprächen mit den AutorInnen: Karlheinz Barwasser / Holger Benkel / Patricia Brooks / Barbara Ester / Klas Ewert Everwyn / GRAF–X / Wolfgang Kammer / Bruno Kartheuser / Axel Kutsch / Jens Neumann / Ulrich Peters / André Ronca / Ioona Rauschan / Dieter Scherr / Robert Stauffer / Angelika Voigt / Dieter Walter / Eva Weissweiler können wir einen Blick in die Arbeitszimmer der Schriftsteller der 1990–er Jahre tun. Wir erfahren viel über ihre Arbeit an Lyrik, Prosa, Drama und über Arbeitstechniken im Studio, auf der Bühne oder im Internet. Und das nicht über "Literatur–Wissenschaftler", sondern aus erster Hand. Die Verflechtungen von Poesie, Kunsttheorie, persönlicher Biographie und politischen Ereignissen, von Leben, Film und Literatur, von Querverweisen zwischen Literatur und Kunst und von Bezugslinien zwischen Vergangenheit, Gegenwart und schließlich sogar der Zukunft machen die „Kollegengespräche“ zu einer komplexen Lektüre. Die Unmittelbarkeit und Dringlichkeit des Schreibens aber wiegen die Beschwernis der labyrinthischen Gedankenwege, die lesend nachvollzogen werden müssen, wieder auf. Ich bin entschieden der Auffassung, daß die Literatur eine Dimension beiträgt, die für die Gesellschaft völlig unverzichtbar ist. Literatur ist nicht nur Dekor des Lebens, das neue Gesellschaftsmodell benötigt neue Literaturformen. Über Verfremdungen drückt Literatur die Befindlichkeiten, Wünsche, Hoffnungen und Befürchtungen der Menschen aus. In Zeiten tiefgreifender Veränderungen verschwimmen deshalb auch die Grenzen zwischen den so genannten Literaturproduzenten und dem so genannten Publikum.

Die Literatur ist weniger als jeder anderer Bereich bereit, die Fixierung auf das, was ist, also auf die Realitäten, die man vorfindet, zu akzeptieren. Genau deswegen entwickelt sie die Dynamik, die eine Gesellschaft dringend braucht, wenn sie nicht auf der Stelle treten will. Das ist Aufgabe der Literatur, nicht der Kulturpolitik.

Wir leben in bürgerlichen Verhältnissen, doch wir sind keine rationalen Kreaturen. Die deutsche Geschichte beweist das. Die europäische Aufklärung, die mit Newton, Kant und Voltaire begann, die erfolgreich den Glauben an den menschlichen Verstand predigte,die Philosophie, die unsere Politik dominierte, ist gescheitert. Die Sprache kann mit den Augen nicht mithalten. Jede Gesellschaft über verfügt Formen von Öffentlichkeit, selbst autoritäre Systeme müssen benennen und erklären, was war, was ist und sein soll. Vor allem aber werden Begriffe gebraucht von den Bewegungen, die gegen die hergebrachte Ordnung aufbegehren und etwas Neues erstreben – selbst wenn dieses Neue als Rückkehr zu einem idealen Alten dargestellt wird. Der aufgeklärte Mensch handelt nicht notwendigerweise zu seinem Besten. Unsere Mitbürger werden weiterhin morgens aufstehen, ins Auto steigen und zur Arbeit fahren, aber in ihren Köpfen geht etwas Gefährliches vor sich. Denn sie leiden unter der bürgerlichen Langeweile. Die Konfliktlinien der Gegenwart lassen sich nicht mit den klassischen Gerechtigkeitsfragen beschreiben, die sich zwischen Arbeit und Kapital stellten. Der Bewegungsbegriff der Globalisierer lautet: Innovation. Er hat alte Kampfbegriffe wie Fortschritt und Emanzipation abgelöst. Die zentralen Innovationen haben die Gesellschaft insgesamt verändert, ob es sich um den Buchdruck oder das Internet handelt. Der Beweggrund für Neuerungen ist der Distinktionsgestus. Schriftsteller wollen sich unterscheiden. Wollen aktueller, cooler, avancierter sein als die anderen. Wollen sichtbarer sein auf dem Hintergrund des Überkommenen. Als sie in die Welt kamen, war das eine Welt, in der es sie nicht gab; sie mußten sich erst schaffen. Bei bewußter Betrachtung der Welt stellen sie fest, daß sie so gut wie abwesend sind. Ihr Leben verbringen sie damit, ein Bild von sich zu erzeugen und es dann immer weiter zu korrigieren, zu präzisieren – und dabei sterben sie. Ihr Ziel ist es, sich selbst ins Weltbild zu setzen, sich zu positionieren.

Der Zeitpfeil dreht sich und zielt direkt ins Herz der Gegenwart. Wir können heute nicht wissen, welches Wissen wir morgen brauchen. "Innovation" ist, richtig verstanden, das schöpferische Leben der Gesellschaft. Es beinhaltet einen riesigen Speicher von Erfahrung und Phantasie. Was es nicht braucht, ist die schriftgewordene Angst. Nicht Bildung muß man abbauen, sondern Vorschriften. Deutschland war ein Land der Ideen, das Land der 'Dichter und Denker'; wir können es wieder werden, wenn es gelingt, uns mitsamt Pferd aus dem Sumpf der gepflegten Depression zu ziehen.

Glauben wir dem ersten Buch Mose, der Genesis, dann war alles gut mit dem Menschen, als Gott ihn schuf; er war die Krone der Schöpfung. Glauben wir Michel de Montaigne, dann sollte aller Zweck der Menschen sein, sich zu vergnügen. Das ‘selbstbestimmte Individuum’ ist eine Lüge der Aufklärung. Blinder Zukunftswahn und transzendentale Obdachlosigkeit sind die Stützpfeiler im Weltbild des Menschen des 21. Jahrhunderts. Jede Ordnung ist ein endloses Experimentieren der Menschen mit sich – unter der dauernden Gefahr, daß die mühsam eingerichtete Ordnung wieder zusammenbricht. Jede Form der Ordnung ist eine temporäre und prekäre Artikulation kontingenter Praxen. Ich bin ein sehr introvertierter Mensch. Wenn ich mich selber beobachte, dann nehme ich mich als expressiv wahr. Aber das ist nicht meine Natur. Ich bin nicht gerne ständig in Gesellschaft. Immer soll man humorvoll sein, intelligent und witzig. Aber das bringt mich als Mensch nicht weiter. Gleichzeitig ist es manchmal genauso schwer auszuhalten, wenn andere mich langweilig finden. Da bleibe ich lieber zu Hause.

In einer medialisierten Gesellschaft bewegt sich das Selbst auf einem Markt, wo nicht Ware gegen Geld, sondern Darstellung gegen Beachtung getauscht wird. Wer hier ins Licht der Scheinwerfer gerät, nimmt teil – ob er das will oder nicht – an jener eigentümlichen Ökonomie, die auch Person und Persönlichkeit noch zur Ware macht. Bei dieser Wirtschaftsform wird die Banken– und Börsenfunktion von den Massenmedien übernommen. Sie kontrollieren Zahlungsmittel und Tauschwerte auf einem Markt, der früher exklusiv den Reichen, Schönen und Bedeutenden vorbehalten war und heute jedermann offen steht. Sein kostbarstes Gut ist das Authentische, ein Merkmal, das sich gut vermarkten läßt. Die Individuen, die sich dieser neuen Ökonomie unterwerfen, hoffen auf die Spiegel– und Echoräume der Mediengesellschaft. Diese soll ihnen nicht nur Prominenz und Karriere, sondern auch Identität vermitteln: Unbewußtes Ziel des selbstdarstellerischen Akts ist die identitätsstiftende Spiegelung im anderen. Im mentalen Tauschverhältnis enthüllt dabei der Narzißmus seine eigentlich verborgene zwischenmenschliche Dimension. Das Rheinland ist tief in meinem Herzen, und davon werde ich nie loskommen. Aber ich bin ein Stadtmensch geworden und könnte nicht mehr in der Provinz leben. Ich gehe gern ins Theater und ins Kino, und obwohl ich sie in diesem Film glorifiziere, mag ich die Vorstellung nicht, in einer engen Gemeinschaft zu leben, wo jeder alles von allen weiß. Ich schätze meine Anonymität im Ruhrgebiet.

Die Erinnerung wurde mit einem Buch verglichen. Unvergeßliches und Erinnerbares sind nicht daßelbe, das wahrhaft Unvergeßliche kann keinem Archiv anvertraut werden; da sowohl im individuellen als auch im kollektiven Gedächtnis den Anteil des Unvergeßlichen den des bewußten Eingedenkens bei weitem übertrifft. Mit dem Paradoxon, die Gutenberg-Galaxie verlassen zu müssen, ohne der Haltbarkeit digitaler Formate und Hardware trauen, also auf das Papier verzichten zu können, schlägt sich seit Jahren jede Staats- und Nationalbibliothek herum. Allen geht es zudem um Kriterien für elektronische Authentizitätssiegel und die Auswahl verwahrungswürdiger, zumal 'digital geborener' Daten im Zeitalter ihrer sintfluthaften Vermehrung durch das Internet. Was soll für die Nachwelt bewahrt, wie soll es verifiziert, wie vor Missbrauch geschützt werden? Keine "digitale Zauberei" kann sich bisher mit der Haltbarkeit von Papierquellen messen, von Steintafeln ganz zu schweigen. Man muß sich auf seine Spürnase verlassen, einen Spürsinn entwickeln, ein Spüren mit innerem Sinn. Wir, die von außen darauf sehen, weil das die einzige Weise ist, es bei einem anderen wahrzunehmen, sollten bedenken, daß etwas Empfindliches, Fragiles sich zeigt; etwas, das in seinem Kern menschlich ist Der Verstand ist alles, was zählt. Die Seele ging im Lauf der Jahrhunderte verloren. Die Haltbarkeit von Weltanschauungen ist begrenzt. Utopien erwiesen sich als zweifelhaft. Der erleuchtete Verstand aber bleibt eine verläßliche Größe. Nur die Gesellschaft ist gesund, in der die Spannung zwischen dem Denkwürdigen und dem Unvergeßlichen lebendig bleibt. Kein Material ist ohne Aura, also ohne Vorgeprägtheit, ohne Welt– oder Vergangenheitsbezug. Sie haben gelesen, wie ich mich gestaltet habe. Warten Sie, bis ich mich auflöse, dann werden Sie sich möglicherweise wieder über die eigentlichen Inhalte der Gutenberg-Galaxis beugen.

Matthias Hagedorn

Info: www.vordenker.de/kollegen/kollegen.htm
 
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