A. Weltenbruch

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„John! Aufwachen! Dein letzter Tag, gib nochmal alles! Dein letzter Tag!“
John wachte auf. Er war müde, sein Körper schmerzte etwas, er war alt geworden. Der letzte Tag vor dem Ruhestand. Ein persönlicher Gruß aus den Lautsprechern? Das hatte er nicht erwartet. Normalerweise war es ein stumpfes „Aufwachen“ mit einem schrillen Piepton. Es fühlte sich gut an, irgendwie besonders.
Das winzige Zimmer grenzte direkt an den Flur und er hörte, wie die ersten Türen sich öffneten. Die Kollegen, die auch ihren letzten Tag hatten. Derrick, Trevor, Martin, Daniel, Peter, David.
Er zog sich schnell die Arbeitskleidung an und ging nach draußen auf den Flur, schloss die Tür ab. Daniel fummelte an seinem Schloss herum, zitterte leicht, bekam es nicht auf Anhieb hin. Sie alle hatten damals am selben Tag angefangen und würden heute am selben Tag in den Ruhestand gehen. Ein kleines Haus in einem der Vororte. Auf dem Gang grüßte man sich wie üblich, lächelte einer guten Zukunft entgegen. An den Wänden hingen einzelne Bilder von den Häuschen, die einen erwarteten, aber auch Bilder der Direktion, alles dicke, alte Männer und Frauen, die mit einem falschen Lächeln auf die Arbeiter herunterstarrten.
„Der letzte Tag“, sagte Trevor und lächelte dabei. „Der letzte Tag.“ Es hatte etwas magisches.
Sie kamen am Ende des Ganges an und Derrick drückte auf den Fahrstuhlknopf, woraufhin aus den Lautsprechern eine Ansage ertönte: „Der letzte Tag. Gib noch einmal alles und bleib uns gut in Erinnerung!“ John hatte nie gewusst, welchem Zweck die Sprechanlage an dieser Stelle diente oder ob sie überhaupt funktionierte. In all den Jahren war sie kein einziges Mal genutzt worden.
Der letzte Tag, noch einmal alles geben!
Die Schiebetür öffnete sich und sie gingen zusammen hinein. Es war stickig im Fahrstuhl und er quietschte unangenehm, aber in all den Jahren war noch nie etwas schlimmes passiert. „Müsste mal repariert werden“, sagte Trevor. „Nicht mehr unser Fall“, gab Peter zurück.
Der Alltag war hart, aber im Gegenzug musste man nur 25 Jahre seines Lebens arbeiten. Das war der Deal. 25 Jahre in den Werken von Eryhmaik und danach ein kleines Häuschen an einem netten Plätzchen. Noch einmal alles geben; der letzte Tag.
Der Fahrstuhl kam an und öffnete sich mit einem weiteren lauten Quietschen.
Die Gruppe schritt heraus und befand sich noch im Vorraum des Fabrikgebäudes. Hier konnte man sich allerlei Kleinigkeiten holen, die man in den Pausen so brauchen könnte. Zigaretten, etwas zu trinken, Naschkram, aber auch Zeitschriften oder kurze Bücher. John zog eine Schachtel Ebony & Brooks aus dem Automaten. Ein Feuerzeug lag der Packung bei. Die meisten der anderen waren vorgegangen, nur Trevor überlegte noch, welches Tittenheft er sich kaufen würde.
Danach ging er durch die Tür des Vorraums in einen verglasten Gang, in dem er Ausblick auf die Stadt hatte. Seit Jahren war er nicht mehr dort gewesen, aber bald wäre ja genug Zeit dafür.
Am Ende des verglasten Ganges war eine weitere Tür und der Pförtner Samuel saß dort vor einem kleinen Tisch. Er hatte ebenfalls vor Jahren mit der Truppe in der Fabrik angefangen, aber musste schon früher aufstehen. Der Posten des Pförtners war etwas spezieller.
„Der letzte Tag!“, sagte John zu Samuel und dieser lächelte schief. „Ja, der letzte Tag.“ Er wirkte etwas niedergeschlagen. „Ist alles in Ordnung?“ „Natürlich, natürlich“, gab Samuel zurück und vermerkte kurz auf einem Papier, dass John pünktlich erschienen war. „Bis später dann“, sagte John noch, Samuel gab aber keine Antwort.
John durchschritt die Tür und befand sich in dem gigantischen Stahlwerk. Die Decke wurde von kalten Neonröhren beleuchtet und die ganze Halle wirkte etwas gespenstisch. Es herrschte schon reger Betrieb an den Maschinen und John nahm seinen Platz ein.
Die Schicht verstrich ruhig, aber er gab sich extra Mühe, fertigte viele Sachen doppelt so schnell ab. Der letzte Tag. Noch einmal alles geben. Gut in Erinnerung bleiben.
Später gab es Mittagessen am Rand der Halle und danach war noch etwas Zeit, die Pause war noch nicht zu Ende. Mit der Schachtel Ebony & Brooks verschwand John aus der Halle auf den dafür vorgesehenen Balkon.
Samuel stand schon dort und rauchte seine „Blue Lady Cigarettes“, etwas abseits saß Trevor und blätterte in einem Tittenheft. Samuel wirkte fahrig; er rauchte anders als sonst, als würde ihn etwas belasten. John wartete ab, aber als Samuel auch nach einiger Zeit nichts sagte, begann er: „Ich bin gespannt, wie das oben bei der Direktion ist.“ Samuel sah nach oben, dort wo er wahrscheinlich den Platz der Direktion vermutete und machte einen seltsamen Gesichtsausdruck, stand einige Sekunden so da. „Wird sicher ganz nett.“ „Weißt du, ich glaube einfach –“ „Pause vorbei. Letzter Tag. Noch einmal alles geben!“, tönte es aus den Sprechanlagen.
Samuel nickte, obwohl John nicht zu Ende gesprochen hatte, drückte seine Zigarette aus und verschwand im Inneren. John war kurz perplex, aber drückte ebenfalls seine Zigarette aus, um mit Trevor hineinzugehen. „Was denkst du? Ob man sich mal wieder trifft, wenn man draußen bei den Häusern ist?“ „Sicher“, sagte John und runzelte die Stirn. Ob das Samuel Sorgen machte? Ob man sich Wiedersehen würde?
John hatte sich gerade an seinen Platz gesetzt, als plötzlich ein Krachen und kurz darauf ein Schrillen ertönte. Einer der Förderkörbe hatte sich halb von seiner Schiene gelöst und schwang hängend hin und her. John hatte gerade erst die Lage registriert, als der Korb vollständig von der Schiene riss und nach unten fiel.
Das Krachen war ohrenbetäubend.
Der Schreck schien alle durchzogen zu haben. Es kam ab und zu vor, dass etwas kaputt ging, aber es war trotzdem jedes Mal ein Schock. Das Programm kannte man aber. Nur wenig später kamen einige Männer herein, sahen sich den Schaden an und entsorgten das Metall; sie sollten einfach weiterarbeiten, den Betrieb nicht aufhalten.
Der Rest der Schicht verlief ruhig und am Ende ertönte ein Piepen, die Sprechanlagen schalteten sich wieder ein. „Kommen Sie alle bitte zum Nebeneingang. Ihre Schicht endet hier. Danke für Ihre großartige Arbeit.“
John lächelte, sah noch einmal über seinen Arbeitsplatz und verabschiedete sich innerlich. Einmal strich er noch über das kalte Metall, dann stand er auf und ging zum Nebeneingang, die anderen warteten schon dort. Trevor hatte seine Zeitschrift irgendwo an den Rand der Halle gelegt. Peter strich sich durch die Haare und Jimmy kontrollierte seine Kleidung. Die anderen sahen umher, wirkten teilweise etwas ernüchtert, irgendwie hatte John erwartet, mehr lächelnde Gesichter zu sehen. „Eine Schande“, sagte Daniel. „Am letzten Tag.“ „Manchmal passiert eben sowas.“ „Sowas passiert? Bist du...“ Daniel war sichtlich wütend. „He, was...“ „Martin stirbt und du tust mit einem 'Sowas passiert' ab?“
John schluckte. Der Korb hatte mehr Schaden angerichtet, als er mitbekommen hatte. Martin war tot.
Bevor er etwas sagen konnte, öffnete sich schon die Tür und sie schritten zusammen hinein, durch einen Gang und kamen nach einer Biegung in ein Zimmer. Es war ein größerer Raum, der in ein warmes Licht getaucht war. Aus einer anderen Tür kam ein Wagen mit mehreren Tabletts, der von einer Frau geschoben wurde.
„Nehmen Sie sich bitte jeder ein Tablett. Morgen früh wird die Direktion sich bei Ihnen bedanken und Sie können Ihr neues Zuhause beziehen.“
Jeder nahm eines der Tabletts und ging damit zurück in die Halle, zum Vorraum, über den Fahrstuhl, in das eigene Zimmer. Man verabschiedete sich, sah schief lächelnd in die Zukunft, doch die Stimmung war noch immer gedrückt.
Im Zimmer nahm John den Deckel vom Tablett und sah sich an, was es alles gab. Es waren einige Leckereien, gutes Fleisch, wunderbare Beilagen, sogar etwas Apfelsaftschorle in einer kleinen Plastikflasche. Normalerweise gab es nur Brei in den Pausen. Während des Essens las er etwas in einem der Bücher, die er an dem Automaten unten gekauft hatte. Er hatte es schon so häufig gelesen, aber trotzdem las er es jedes Mal wieder. „Im Zwielicht“ von Manta Dada.
Das Essen machte ihn müde und er legte das Buch bald darauf zur Seite, schlief ein und vergaß alles.

„John! Aufwachen! Dein letzter Tag, gib nochmal alles! Dein letzter Tag!“, tönte es aus dem Lautsprecher und John wachte auf. Er lächelte, hörte draußen schon, dass sich Türen öffneten, wieder seine Kollegen. Ebenfalls ihr letzter Tag, dachte John, zog seine Arbeitskleidung an, ging nach draußen auf den Flur, schloss die Tür hinter sich und sah wie Daniel an seinem Schloss herumhantierte.
Die Gruppe ging zusammen zum Fahrstuhl, an den Bildern der versprochenen Häuser und den Bildern der Männer und Frauen der Direktion vorbei.
„Der letzte Tag“, sagte Trevor und lächelte dabei. „Der letzte Tag.“ Sie kamen am Ende des Ganges an und Derrick drückte auf den Fahrstuhlknopf. „Der letzte Tag. Gib noch einmal alles und bleib uns gut in Erinnerung!“, ertönte es aus dem Lautsprecher. John runzelte die Stirn, aber er verinnerlichte die Worte.
Die Fahrstuhltür öffnete sich und es quietschte unangenehm, als sie nach unten fuhren. „Müsste mal repariert werden“, sagte Trevor. „Nicht mehr unser Fall“, gab Peter zurück.
Unten angekommen holte sich John seine E&B-Zigaretten, während fast alle anderen schon vorgegangen waren. Nur Trevor entschied sich noch für ein Heft, als John schon aus der Tür heraustrat, durch den verglasten Gang, kurz innehielt und dann zu Samuel ging.
„Der letzte Tag!“, sagte John zu Samuel. „Ja, ja.“ Niedergeschlagen sah er hoch, wirkte verwirrt. „Ist alles ok?“ „Klar, natürlich“, gab Samuel stockend zurück und vermerkte auf einem Papier, dass John pünktlich erschienen war. „Bis später dann“, sagte John noch. „Bis später.“
An seinem Arbeitsplatz fiel John auf, dass er Martin bisher nicht gesehen hatte. War er krank? Am letzten Tag? Wie ihm das bisher nicht auffallen konnte... Es verwirrte ihn etwas, aber das hielt ihn nicht davon ab noch einmal alles zu geben.
Später gab es Mittagessen. Danach war noch etwas Pause. Mit der Schachtel verschwand John aus der Halle auf den Balkon.
Samuel stand schon dort und rauchte, etwas abseits saß Trevor und blätterte in einem der Tittenhefte. „Weißt du was mit Martin ist?“, fragte John und Samuel wollte direkt antworten, stockte aber dann. „Was hast du gesagt?“ „Weißt du was mit Martin ist?“ Er schien einen Moment lang zu überlegen. „Du wirst es eh später vergessen haben... und irgendwann muss ich es verdammt nochmal sagen“, sagte er und hatte seinen Ton gesenkt. Zusammen nahmen sie etwas Abstand von Trevor und John war mehr und mehr verwirrt. „Martin ist tot. Er wurde gestern von einem Förderkob in der Halle zerschlagen.“ „Gestern? Gestern war doch alles in Ordnung.“ „Du verstehst das nicht. Ich...“ Er wollte sich schon abwenden. „Samuel, was ist los?“ „Das ist eine scheiß Farce – wir machen seit Jahren den letzten Tag. Seit Jahren. Und jeden Abend vergessen wir.“
John sah Samuel verwirrt an. „Ist alles in Ordnung mit dir, was meinst du?“ „Ja, alles ist in Ordnung“, sagte er kopfschüttelnd und zog an seiner Zigarette. „Es gibt keinen letzten Tag, das hört nie auf.“ „Was ist mit Martin? Jetzt ehrlich.“ „Er ist tot. Er ist tot. Er ist tot. Er ist gestern gestorben.“ „Ich hab ihn doch gestern gesehen?“ „Das war vor Monaten, vielleicht vor Jahren.“ „Samuel... ist alles in Ordnung?“ „Es gibt keinen letzten Tag“, wiederholte er.
„Pause vorbei. Letzter Tag. Noch einmal alles geben!“, tönte es aus den Sprechanlagen. „Samuel, was ist los?“ „Morgen führen wir genau dasselbe Gespräch; das ist los.“ Er drückte die Zigarette aus und ging hinein.
John arbeitete weiter, etwas verwirrt, aber er wollte an seinem letzten Tag noch einmal alles geben. Samuel hatte vielleicht einen miesen Tag oder so etwas in der Art; er hatte wirres Zeug geredet.
„Kommen Sie alle bitte zum Nebeneingang. Ihre Schicht endet hier. Danke für Ihre großartige Arbeit.“
John lächelte, sah noch einmal über seinen Arbeitsplatz und verabschiedete sich innerlich. Einmal strich er noch über das kalte Metall, dann stand er auf und ging zum Nebeneingang, wo die anderen schon warteten.
Nach kurzer Zeit öffnete sich die Tür und sie schritten zusammen hinein, durch einen Gang und kamen nach einer Biegung in ein Zimmer.
Aus einer anderen Tür schob eine Frau einen Wagen hinein. „Nehmen Sie sich bitte jeder ein Tablett. Morgen früh wird die Direktion sich bei Ihnen bedanken und Sie können Ihr neues Zuhause beziehen.“
Jeder nahm eines der Tabletts und ging damit zurück in die Halle, zum Vorraum über den Fahrstuhl in das Zimmer, nachdem man sich verabschiedet hatte.
Im Zimmer nahm John den Deckel vom Tablett und sah sich an, was es gab. Er wollte direkt anfangen zu essen und dabei in seinem Lieblingsbuch lesen, doch Samuels Worte ließen ihm keine Ruhe. Normalerweise hätte er das alles als Schwachsinn abgetan, aber wo war Martin gewesen? Martin war tot, wie hatte er davon nichts mitbekommen können? Es hatte in den ganzen Jahren Fälle gegeben bei denen Leute durch Maschinen getötet wurden, aber daran konnte er sich ja erinnern und das mit Martin, war gestern? Heute war er nicht mehr da und gestern hatte er sich verabschiedet. Irgendwie machte das alles keinen Sinn.
Er wollte seine Gedanken notieren, aber ihm fiel auf, dass es gar keinen Stift gab. Es gab auch keine Möglichkeit einen Stift zu kaufen. Im Automaten gab es keine. Seit 25 Jahren hatte er nicht geschrieben, es gab gar keine Möglichkeit sich irgendetwas zu notieren.
Irgendwie zementierte diese Einsicht seine paranoiden Gedanken, also begann er wieder in seinem Buch zu lesen und dann kam ein weiterer Gedanke hinzu. Er wurde sicher beobachtet. Natürlich wurde er beobachtet. Langsam aß er und las in dem Buch, knabberte etwas an seinem Fingernagel und drückte über Buchstaben, die er aneinanderreihen wollte, mit dem Nagel auf das Papier, markierte so Zeichen, die zu Wörtern und Sätzen werden würden, würde man sie aneinanderreihen – vor vielen, vielen Jahren hatte er so ab und zu „geheime“ Botschaften versendet. Als er merkte, dass er müde wurde, legte er das Büchlein anders hin als sonst. John wusste, dass es ihn verwirren würde. Er legte es achtlos auf den Boden, das Tablett zur Seite und schlief ein.

„John! Aufwachen! Dein letzter Tag, gib nochmal alles! Dein letzter Tag!“, tönte es aus dem Lautsprecher und John wachte auf. Er war verwirrt.
Gestern hatte er das Buch doch wie immer auf den Nachtschrank und nicht auf den Boden gelegt?
Er sah es sich an und ihm fielen direkt ein paar der Druckstellen auf, während er draußen schon hörte wie die anderen ihre Zimmertüren öffneten.
In kürzester Zeit bemerkte er, dass es Markierungen waren und er reihte die Buchstaben im Kopf aneinander. Dort stand, dass alles falsch war, dass dies nicht der letzte Tag war, sondern alles wiederholt wurde, seit Jahren. Martin wäre tot. Martin war doch nicht tot? Er hatte ihn doch gestern noch gesehen. Verwirrt legte er das Buch zur Seite und ging nach draußen, ging schnell den anderen hinterher. Durch den Fahrstuhl nach unten in den Vorraum – Martin war nicht da.
John zog sich eine Schachtel E&B-Zigaretten aus dem Automaten, während Trevor sich noch ein Tittenheft raussuchte. „Wo ist Martin? Hast du ihn gesehen?“, fragte John Trevor, doch dieser schüttelte nur den Kopf. „Der letzte Tag und Martin ist krank? Ja gut.“ Er zog die Augenbrauen hoch.
Vielleicht wusste Samuel mehr, vielleicht war Martin irgendwie vorgegangen, auch wenn das John nicht wirklich glaubte.
Er durchschritt den gläsernen Gang und sah zu Samuel. „Weißt du, wo Martin abgeblieben ist?“ Samuel starrte John an. Für einen Moment schien die Luft zum Zerschneiden dick zu sein.
„Kannst du dich erinnern?“ „Was?“ „Später.“ John nickte. Samuel notierte, dass John pünktlich erschienen war und dieser schritt durch die Tür in die große Halle, machte sich an die Arbeit.
Nach dem Mittagessen ging er raus und rauchte, Samuel stand schon dort. „Was ist mit Martin?“, fragte John. Samuel zog ihn am Arm und stellte sich etwas abseits auf.
„Du kannst dich erinnern?“ „Wie meinst du?“ „Wieso hast du mich angesprochen?“ „In meinem Buch waren Markierungen, ich weiß nicht woher und diese... Martin wäre tot und dass alles eine Lüge wäre. Dass der letzte Tag immer wiederholt würde.“ „Es stimmt. Alles ist eine Farce. Du hast dir das wahrscheinlich selbst notiert, gestern. Es stimmt. Es stimmt.“ „Aber...“ „Es gibt keinen letzten Tag, alles was dort steht stimmt. Später wird es Essen geben, wir werden müde werden und dann einschlafen und wieder glauben, dass es der letzte Tag wäre.“ John ging alles durch. „Ich brauche mehr Zeit, ich muss das früher verstehen.“ „Wenn es deine Handschrift ist, dann glaubst du es eher.“ „Aber womit soll ich schreiben? Ich habe keinen Stift, es gibt keine Stifte.“ „Ich habe welche.“
John wurde klar, dass Samuel alles verstehen konnte, er hatte durch seine Arbeit als einziger die Möglichkeit an Stifte zu kommen, da er die Arbeiter und ihr Erscheinen notieren musste. „Morgen gebe ich dir einen.“ Die Sprechanlage ertönte.
Der Rest des Tages verlief gleich.

„John! Aufwachen! Dein letzter Tag, gib nochmal alles! Dein letzter Tag!“, tönte es aus dem Lautsprecher und John wachte auf. Er war verwirrt; gestern hatte er das Buch doch auf den Nachtschrank und nicht auf den Boden gelegt? Wieder las er die Markierungen und fragte sich, was es bedeutete.
Draußen konnte er Martin nicht sehen und er fragte Trevor, ob er Bescheid wüsste, aber dieser verneinte. Samuel wüsste sicher mehr.
„Weißt du, wo Martin abgeblieben ist?“ „Später reden wir. Du musst rein.“ John nickte. Samuel notierte, dass John pünktlich erschienen war und dieser schritt durch die Tür in die große Halle, machte sich an die Arbeit.
Auf dem Balkon gingen sie wieder alles durch. Samuel erklärte ihm alles noch einmal und gab ihm dann den Stift. „Damit sollte es besser funktionieren.“
Nach der Schicht mit dem Tablett oben im Zimmer, notierte er verdeckt alles in dem Buch und positionierte es so, dass er wieder darauf achten würde. Er würde mehr Zeit bekommen. Gleichzeitig notierte er auch die Anzahl der Tage, die er es schon wusste. Er versteckte den Stift, klemmte ihn möglichst unauffällig unter das Bett und aß den letzten Rest auf.

„John! Aufwachen! Dein letzter Tag, gib nochmal alles! Dein letzter Tag!“, tönte es aus dem Lautsprecher und John wachte auf. Sein Text klärte ihn auf, aber er war verwirrt, dass [das] war seine Schrift, gestern war noch alles normal gewesen und plötzlich so etwas? Ein übler Scherz? Dort wurde alles erklärt, was passierte, wie er schreiben konnte, worauf er achte müsste.
„Ich weiß es“, sagte er zu Samuel. „Später.“ John nickte und wartete ab, bis es Mittagszeit war, um auf dem Balkon mit Samuel zu reden. Sie diskutierten leise darüber, während sie rauchten, wussten, dass sie nicht viel Zeit hatten.
„Wir müssen es den anderen sagen, wir müssen etwas tun.“ „Nein“, sagte Samuel und schüttelte den Kopf. „Daran darfst du nicht denken.“ „Ich werde es den Leuten sagen.“ „Du kannst das nicht tun, du weißt nicht, was sie mit uns machen werden.“ „Was willst du dann tun?“ „Es wird eine Chance geben, wir müssen nur warten. Ich hätte es dir nicht erzählen dürfen. Bisher hatte ich es immer wieder erzählt und die Leute haben es einfach vergessen, aber du... du hast es nicht vergessen, ich hätte es dir nicht sagen dürfen!“ „Ich werde Trevor reden, dann mit den anderen.“ John wandte sich von Samuel ab. „Du kannst nicht. Das kannst du nicht tun.“ „Ich muss“, sagte John und ging schon auf Trevor zu, als er nur einen Augenblick später einen dumpfen Aufprall hörte.

„Pause vorbei. Letzter Tag. Noch einmal alles geben!“, tönte es aus den Sprechanlagen, während John sah, dass Samuel unten auf dem Boden aufgeschlagen und tot war. „Was ist los?“, fragte Trevor, der erst jetzt von seinem Heft aufgeblickt hatte. Tod. Samuel hatte sich einfach umgebracht, einfach alles beendet, in einem Moment hatte sich alles geändert. Was konnte er jetzt tun? Welche Möglichkeiten hatte er noch?

Perplex ging John einfach rein. Samuel hatte einfach aufgehört, war gegangen, so groß war seine Angst gewesen.
Jetzt war sowieso alles sinnlos und die Angst war egal.
Seine Schicht verstrich und er nahm das Tablett mit hoch auf das Zimmer, aber aß es nicht. Er schrieb die ganze Nacht und schlief nicht ein. Sollten sie doch kommen und ihn fertigmachen; was sollten sie tun, das schlimmer war als das hier?
Stundenlang wartete er, stundenlang zersetzten ihn die Gedanken, die Möglichkeiten... und dann fiel ihm etwas auf: Wenn jeder Tag so ablief und er hatte den genauen Ablauf ganz konkret notiert, wie kam das Tablett dann weg? Morgens war hier keines.
Er starrte in die leere Dunkelheit und wartete und wartete, als sich schließlich die Tür sich öffnete und ein Mann hereintrat, das Tablett aufsammelte. Ein Mensch? Jemand aus dem System. Jemand der diese Struktur vertrat. Diese ganze Farce hatte sich gerade manifestiert. Eine Gänsehaut durchzog John; er musste etwas tun. „Guten Morgen“, brachte John hervor. Das würde sie irritieren; sie würden spüren, dass etwas falsch lief. „Guten Morgen“, gab der Mann trocken zurück und verließ das Zimmer wieder.
Das war alles? Würde er gemeldet werden? Was war gerade passiert? Was war passiert?
Er würde gleich gemeldet werden, da war er sich sicher. Sie würden ihn abholen und töten. Stundenlang zermarterte er sich den Kopf; wartete ängstlich, doch nichts passierte, bis die Sprechanlage wieder anging. „John! Aufwachen! Dein letzter Tag, gib nochmal alles! Dein letzter Tag!“ Er lachte und hörte wie die anderen sich anzogen und zur Arbeit gingen. Er trödelte. War doch egal. War alles egal. Alles egal.
Er nahm das Buch und schlenderte lesend zum Fahrstuhl. Gleich würden sie ihn holen – davon war er überzeugt – doch nichts passierte. Im Vorraum zog er sich Zigaretten und ging zum Pförtner. Ein neuer?
„Ich weiß Bescheid“, sagte John ihm ins Gesicht, erwartete eine Reaktion, dass sich alles verändern würde, Schlag auf Schlag.
„Zu spät. Ich muss das eintragen.“ John lachte ein heiseres Lachen. „Ich weiß Bescheid.“ „Gut, gut, dann mal an die Arbeit.“ Verdattert wartete John einen Moment, dann ging er zur Maschine und ließ seine Gedanken schweifen. Was waren seine Möglichkeiten? Er könnte etwas zerstören, es allen erzählen und... er konnte eigentlich gar nichts machen. Er zog ein wenig an der Apparatur, schlug darauf ein; aber es änderte sich nichts, so würde es nicht kaputt gehen. Er könnte es Leuten erzählen, aber sie würden genauso unfähig sein, es gab gar keine Möglichkeit im Moment. Samuel hatte sich nicht ohne Grund umgebracht. Sein letzter Tag.
Er wollte ihn gut verbringen und las bis zur Mittagszeit in dem Buch; er las es fertig, es war ja nicht lang. Einfach seinen wirklich letzten Tag irgendwie genießen.
Dann ging er nach draußen und wollte sich auf das Geländer stellen. Samuel war entfernt worden, nichts zeugte mehr von ihm. Er wollte auf das Geländer steigen, aber das konnte er nicht; er konnte es einfach nicht tun. Er konnte nicht springen.
Dann überlegte er.
Die Hoffnung, die er sonst immer gehabt haben müsste, die Hoffnung, die wohl jeden Morgen geweckt worden war. Der erste Moment, als er aufgestanden war und noch nicht in dem Buch gelesen hatte.
Er warf das Buch über das Geländer, sah zu wie es so klein wurde, dass er es nicht mehr erkennen konnte.
Das Essen am Abend schmeckte nach Hoffnung.

„John! Aufwachen! Dein letzter Tag, gib nochmal alles! Dein letzter Tag!“, tönte es aus dem Lautsprecher und John wachte auf.
 

MonacoSteve

Dipl.-Lachfalter - und nicht ganz Dichter
Teammitglied
Oh, oh! Hier grüßt das Murmeltier auf bedrückende Art! Tolle Geschichte! (y)
 

A. Weltenbruch

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... gepaart mit dem Szenarium von 👉 "Die Insel"
Trailer, die den ganzen Film erzählen, sind mir am Liebsten 😅 Glaube dieses grundsätzliche Motiv kommt häufiger vor in SciFi - ein großes Versprechen, was sich als Lüge rausstellt. Ich schrieb mal eine Geschichte namens Mindupload, wo sich das ganz ähnlich ausspielt, war jetzt keine bewusste Referenz auf den Film
 
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