Xilef

zerfahrener Verdutzter
Ein Thema, das mich immer wieder beschäftigt und das ich jetzt gerne mal in die Runde gebe.
Der Anlaß dazu:
1. eine Freundin von mir, die beruflich viel durchs Land reisen muss und manchmal erst spät abends an ihr Ziel kommt, ruft mich vorgestern an und erzählt wie sie das Gefühl hatte, es gerade noch mit heiler haut nach Hause geschafft zu haben - am üblichen spätabendlichen "Abschaum" vorbei - uuuups ! - wir mußten beide nicht lachen aber innehalten...in Ermangelung eines für sie besseren Wortes, kam plötzlich leicht etwas über die Lippen, was ihr eigentlich garnicht entsprach, da sie sich oft Gedanken über die "auf-dem-Bahnhofsvorplatz-Gestrandeten" und ihr Schicksal macht - ähnlich wie Walraff es sogar praktisch vorgeführt und literarisch umgesetzt hat.....
Nicht nur das Denken lenkt zu Worten, auch umgekehrt lenken Worte in Denkrichtungen.....
womit ich zu
2. Nach einem halben Jahr in Canada in den 80ern war ich nie mehr in Amerika, unserer Geschwisterkultur jenseits des großen Teichs. Aber als Leseratte und Cineast verfolge ich recht intensiv, was von dort auf den Markt kommt. Es ist ohne zweifel sehr vielfältig. Aber nehmen wir das Kino:
auch hier macht mich nachdenklich, welches Menschen- oder Zivilisationsbild durch, vor allem eben, den Mainstream vermittelt wird und dadurch natürlich auch amerikanisches Wesen widerspiegelt.
Gestern habe ich mir mal "Das Buch Eli" angeguckt, für das sich ja große Schauspieler hergegeben haben. Es spielt in einer postapokalyptischen Welt, in der ein einsamer Wanderer ein Buch nach "Westen" transportiert, an dem wie sich herausstellt, besonders ein anderer größtes Interesse hat. Der setzt nun mehr als er sich leisten kann daran, in den Besitz des Buches zu kommen, denn die Worte darin besäßen die Macht, die Massen kontrolliert zu lenken. Stoisch und unverdrossen jedoch verteidigt der lonesome heroe die Schrift - und zwar nicht nur mit Zähnen und Klauen, sondern mit überlegener Kampfeskunst.....man könnte auch sagen, er ist ein Richter und Schlächter, ein Warrior, ein Monster eigentlich, wenn man bereit ist zu akzeptieren, daß die Menschen ansonsten "wie Tiere", also "Abschaum" geworden sind. In der Pointe kurz vor Ende des Films stellt nun der "Böse" fest, als er mit Gewalt doch an das Buch gekommen ist, dass es in Blindenschrift geschrieben ist und er selbst damit garnichts anfangen kann. Der "Gute", dessen Weg inzwischen nicht nur von vielen gepflasterten Leichen sondern auch einem fatalen Schuß in seinen eigenen Bauch gezeichnet ist, gelangt mit Unterstützung durch eine "Jüngerin" schließlich an einen Ort (Alcatraz), den er als das Ziel und Ende seines Weges definiert: eine Art letzte Bibliothek dessen, was menschliche Werte in Form konkreter Dinge archiviert - nur die Bibel fehlt noch. Sterbend diktiert Eli, der sie nach über 30 Jahren nun auswendig kann, die Schrift dem Bibliothekar in die Hand. Solana, die Jüngerin, streichelt den Grabstein des Herren und bricht, nun samt Machete in sein Wanderergewand gehüllt, wieder auf, um "zu Hause" wahrscheinlich für Ordnung zu sorgen...

Ich möchte den Film eindeutig und dennoch mit Vorbehalt empfehlen, weil er inzwischen als eine weitere schillernde Perle des amerikanischen Selbstverstehens, das sich in Kongruenz mit meinen Eindrücken aus den 80ern wiederfindet, auf den roten Faden fädelt, der sich mir wie von selbst ergeben hat - und den ich, mit Verlaub, sehr bedenklich finde...
Ähnlich wie "Black Hawk Down" und viele mehr kommen mir Filme wie dieser so vor, als seien sie direkt aus dem Pfuhl der neu erstarkenden "Tea-Party" ( der reaktionärsten, dekadentesten, antidemokratischsten und - reichsten politischen Einflußbewegung) heraus produziert worden.....

Und das alles beeinflußt uns hierzulande breitenwirksam und erfolgreich, bis hin in die Gut/Böse Verhandlungen in unseren Hörspiel-Skripten - findet Ihr auch ?
Was denkt Ihr darüber ?:wink:
 

Karpatenhund

Karpatenhund
AW: Durch wessen Augen gucke ich - Was manipuliert unsere Wahrnehmung

Für mich sind das zunächst einmal Phänomene, die durch Angst entstehen (bzw. die unsere Angst widerspiegeln und zum Ausdruck bringen).

Die sozialen Klüfte und Verwerfungen haben sich in den letzten Jahrzehnten stetig vergrößert und umso größer wird das Misstrauen zwischen den sozialen Schichten. Bei den Gut- und Besserverdienenden kommt es dann zu Versuchen, sich auf jede erdenkliche Weise vor dem "Pöbel" zu schützen (Gated Communities etc.). Das wiederum wird natürlich auch vom ärmeren Gegenüber inutitiv als eine Form passiver Aggression wahrgenommen. So schaukelt sich die gegenseitige Angst vor einander hoch. (Und letztlich muss man sich wohl auch vor niemandem so sehr fürchten, wie vor jemandem, der vor einem Angst hat, denn er könnte aus seiner vermeintlichen Bedrohungsperspektive heraus zu situativ unangemessenen und völlig irrationalen "Verteidigungsreaktionen" fähig und bereit sein.)

Dabei braucht man sicherlich nicht in Sozialromantik zu verfallen. Unsoziales Verhalten ist in allen Schichten vertreten. Übergriffe wie die Plünderungen in London scheinen zu zeigen, dass es einem hohen Prozentsatz der gewaltbereiten Armen nicht darum geht, für gesellschaftliche Partizipation oder eine gerechtere Gesellschaftsordnung zu kämpfen, sondern bloß den neuesten Flachbildfernseher in die eigene Wohnung zu bekommen.

Einen interessanten Artikel über die soziale Kluft in Deutschland ("Maria und Josef im Ghetto des Geldes") las ich neulich in der Zeit:
http://www.zeit.de/2011/52/DOS-Maria-und-Josef

Edit:
Ich denke, es ist kein Zufall, dass das Motiv "Zombie" in den letzten Jahren wieder so populär geworden ist. Kann man doch auf andere Weise kaum so gut und so wenig moralisch hinterfragbar (oder dann eben doch: so moralisch ambivalent) das Thema der "bedrohlichen Masse" inszenieren.
 
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Xilef

zerfahrener Verdutzter
AW: Durch wessen Augen gucke ich - Was manipuliert unsere Wahrnehmung

Interessante Gedanken, die ich auch teile......auch in Hinblick auf die "Zombie"-kultur. Allerdings landen wir dann genau wieder bei dem Phänomen, das mich beschäftigt, wenn es um mediale Umsetzung oder Kolportierung eines virulenten gesellschaftlichen Zustandes geht.
Sind sozusagen diejenigen, die inspiriert durch die Welt, in der sie leben, nicht in dem Moment der Erschaffung, und vor allem Verbreitung ihres "Kunstwerkes" auch dafür verantwortlich. Der Diskurs lehnt sich insofern an ethische Fragen, wie die über die "Freiheit der Wisenschaft" oder den Historikerstreit etc an.
Warum empfinde ich die USA als, je nach Blickwinkel, so viel unbefangener aber auch enthemmter in der Verbreitung fast missionarischer Botschaften durch z.B. ihre Traumfabrikprodukte Film ?
Warum glaube ich, dass eine Serie wie "Dexter" sehr zwiespältig wahrzunehmen ist - aber eigentlich zur Gute-Nachmittag Unterhaltung gehört ?
Wie reflektieren wir unsere eigene Manipuliertheit ? und wird nicht die von Dir erwähnte Angst von den Medien höchst opportunistisch als Bedienungsfläche für den Konsum genutzt - also gepflegt und bestärkt ?
 

Karpatenhund

Karpatenhund
AW: Durch wessen Augen gucke ich - Was manipuliert unsere Wahrnehmung

Da kommen wir zu den interessanten Wechselwirkungen von künstlerischer Abbildung und Realität.
Gerade der Horrorfilm muss sich ja schon seit Jahrzehnten die Frage gefallen lassen, inwieweit er selber böse ist (bzw. Böses schafft), weil er das Böse abbildet.

Ich finde sowohl die (immer gleichen) Vowürfe, die gegen Anhänger dieses Genre erhoben werden, als auch die (immer gleichen) Rechtfertigungen, die seine Anhänger abgeben, weitestgehend reflexhaft und unbefriedigend.

Die häufig von Politikern an die Wand gemalten Verrohungsszenarien sind für mich genauso unglaubwürdig wie die Vorstellung einer Katharsis als quasi "indianischer Fotoapparat", der das weglöscht (oder reinigt), was er abbildet.

Was mich (neben vielem anderem) am Horrorgenre reizt, ist dass es wie eine gute Psychotherapie dem Grundsatz folgt: "Da wo die Angst sitzt, da geht es lang". Abu Ghuraib fand ich nicht in irgendwelchen Hollywood-Liebesfilmen wieder, aber sehr wohl in "Saw" und "Hostel." Dabei decken die Schöpfungen des Horrorgenres politisch so ziemlich alles ab von ultraprogressiv bis ultrareaktionär - je nach den Machern, die hinter dem jeweiligen Werk dahinterstehen. Sie sind für mich deshalb durchaus auch nicht per se wichtig, relevant, gut oder unproblematisch.

Vermutlich stellen deshalb die von dir gestellten Fragen eine deutlich sinnvollere Herangehensweise dar.

Ähnliche und dann doch gleichzeitig auch ganz andere Empfindungen habe ich übrigens auch, wenn ich über aktuelle Tendenzen des Journalismus nachdenke. Wenn ich mir anschaue, in welch teilweise apokalyptischen Szenarien über die sicherlich nicht kleinen Wirtschaftsprobleme der letzten Zeit berichtet wird, ist mir dann doch sehr unklar, inwieweit man nicht gerade das erzeugt, über was man berichtet.
 
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Xilef

zerfahrener Verdutzter
AW: Durch wessen Augen gucke ich - Was manipuliert unsere Wahrnehmung

Ich befasse mich selbst gerne mit Neurologie, -psychiatrie und Hirnforschung - angeregt in den 80ern durch die ersten Bücher von Oliver Sacks, dann die Beschäftigung damit im Rahmen meines Bio Studiums und der Theaterarbeit, wie z.B. Peter Brooks "L'homme qui..." (nach einem Buch von O.Sacks)..
Aktuell interessieren mich Gunther Schmid und Gerald Hüther - in deren Zusammenhang und den Versuchen zu beschreiben, was Hirn und Handeln miteinander zu tun haben, fast mantrahaft ein Satz als Erkenntnis, ja frappierender Treffpunkt beider Disziplinen (Psychologie und Neurologie) steht:
Cells that fire together, wire together and those who wire together of course fire together
Klingt zunächst nicht so aufsehen erregend, ist es aber, weil sich hier sozusagen physiologisch manifestiert, was als Verhalten beobachtbar ist: unser Gehirn trainieren wir selbst und zwar imer da entlang, wo sich aus einem Trampelpfad am bequemsten eine Autobahn machen lässt - denn das Leben nach Mustern und Schablonen ist nicht nur lebensvereinfachend, sondern bei komplexen Wesen, wie unsereins zum Beispiel, eine Basisvoraussetzung; wie sehr allerdings diese Voraussetzung vom Individuum zur jeweils ins Einzelne gehenden Lebenshaltung und -führung erhoben wird, liegt an jedem selbst und richtet sich naturgemäß an seinem Erlebnishorizont aus - der aus freien Stücken gewählt wird.
Dieser Zusatz ist wichtig, weil die müssige Debatte, wie frei unser Wille überhaupt ist, sich mittlerweile als obsolet und akademisch herausgestellt hat.
Wie die Navigation im KleinKlein stattfindet ist unerheblicher, als meine Entscheidung, ins Eismeer zu steuern oder nicht und was das anbelangt, hat jeder genug Überblick und die Pinne in der Hand, um die Richtung zu ändern - wenn er denn wollte.

Da bin ich also ganz Deiner Meinung in Absatz 2 und 3 - und bin gleichzeitig sicher, daß da dezidierteres zu zu sagen ist.
Zu " Da wo die Angst sitzt, da geht es lang " möchte ich fragend hinzufügen " und wo gehts dann hin ?", denn, wie Du richtig schreibst, spiegelt das Werk oft den Werkschaffenden dahinter wieder - auch wenn der Diskurs der Kunstrezeption diese Wahrnehmung als Beurteilungskriterium immer wieder zu entflechten sucht ( auch suchen muß);
doch neben der Haltung des Verursachers fühle ich auch immer etwas, das jenseits davon im Gange ist und zu Werke geht.
Ähnlich wie in der Pornographie, wird ja auch im Splatter-Genre an die Urlüste, - ängste und - triebe der Konsumenten gerührt, und auch, wenn ich oft meine Intelligenz oder meinen Geschmack als beleidigt wahrnehme, meine ich, jenseits davon etwas verführerisch ziehendes, süchtig machen wollendes, genüßlich im Tabu sich treiben lassen wollendes zu erspüren - weil es eben über dieses Medium auch so bequem zu erringen, nämlich überhaupt nicht zu erringen ist.
Ich hatte vor zwei Jahren einen Wohnungsnachbarn im Haus, sehr weich, konfliktscheu und harmonieberdürftig mit eher schüchternem Wesen - der hat fast nur Splatter geguckt , vieles von Hills have Eyes abwärts - drei IKEA-Taschen voll hat er mal bei mir untergestellt als er umzog; hat mich nachdenklich gemacht....muß ich zugeben.
 

Karpatenhund

Karpatenhund
AW: Durch wessen Augen gucke ich - Was manipuliert unsere Wahrnehmung

Ein Urteil über das Horrorgenre zu fällen, ist sicherlich auch deshalb so schwierig, weil unter dem Oberbegriff "Horror" die unterschiedlichsten Strömungen zusammenfließen, die auch sicherlich ganz verschieden motiviert sind.

Selbst nur ganz oberflächlich betrachtet, sehe ich da schon das folgende:

- Horror als Jahrmarkts-Spektakel
Früheren Generationen wurden alle Arten von (echten und gefälschten) "Missgeburten", "Freaks" und sonstigen menschlichen "Ausnahmeerscheinungen" im Zirkus und Jahrmarkt präsentiert, heutzutage landet dies via TV, Film und Internet in unserem Wohnzimmer.

- Horror als Extremform der Schadenfreude

Viele Horrorfilme, insbesondere der Funsplatter, vertreten durch "Tanz der Teufel", "Braindead", "From Dusk till Dawn" etc. machen da weiter, wo die "Keystone Kops", "Three Stooges" etc. mal aufgehört haben. Nur splattert mittlerweile niemandem mehr eine Sahnetorte ins Gesicht, sondern gleich die Aorta.

- Horror als Aufarbeitung der hässlichen Aspekte unserer Realität

Wie oben schon erwähnt: Reaktionen auf etwa Abu Ghuraib habe ich außerhalb der Nachrichten und ernsthaften Dokumentationen vor allem im Horrorgenre gesehen. Dass mir davon durchaus nicht politisch alles gefällt, ist die andere Sache. Und wenn sich ein Genre mit Krankheit, Tod etc. befasst, dann sicherlich der Horror.

- Horror als dunkle Form des Kitsches

Nicht nur befasst sich der Horror mit Krankheit, Tod etc. - er bietet häufig dann doch eine relativ billige und gut konsumierbare Aufarbeitung dessen an. Wer mit realem Leid konfrontiert ist, erlebt dann doch etwas anderes, als uns 95% der Horrorfilme anbieten.

- Horror als Punkbewegung
Horror ist häufig auch absichtlich unästhetisch, widerlich und "böse", um zu provozieren, zu rebellieren und sich abzugrenzen. Nicht umsonst ist Horror ein Genre, das sehr stark Jugendliche anspricht.

- Horror als transgressive Kunstform
Eigentlich das gleiche wie darüber, nur mit mehr intellektuellem Überbau und an ein erwachseneres Publikum gerichtet. Sicher kein Zufall, dass "Der andalusische Hund" mit einem Schockbild des zerschnittenes Auges startete.

- Horror als (schauer)romatische Phantastik
In den Tradtionslinien der (schwarzen) Romantik

- Horror als Achterbahnfahrt
Betrachtungsweise von der emotionalen Reaktion des Publikums aus. Einmal ordentlich durchrütteln bitte. Setzt dann besonders auf Spannung und Schock.

- Horror als bewusstseinserweiternde Erfahrung
Wie der Punkt darüber, aber mit anderem Anspruch der Macher. Vielleicht in Anlehung an Kafkas Diktum, dass Literatur eine Axt für das zugefrorene Meer in uns sein solle. Jodorowsky wollte den Film als "psychotrope Waffe", gewissermaßen eine Form psychischer Sprengung.
 
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Karpatenhund

Karpatenhund
AW: Durch wessen Augen gucke ich - Was manipuliert unsere Wahrnehmung

Cells that fire together, wire together and those who wire together of course fire together

Klingt zunächst nicht so aufsehen erregend, ist es aber, weil sich hier sozusagen physiologisch manifestiert, was als Verhalten beobachtbar ist: unser Gehirn trainieren wir selbst und zwar imer da entlang, wo sich aus einem Trampelpfad am bequemsten eine Autobahn machen lässt

Ich sehe das ein wenig wie bei der Ernährung: Dass wir unsere Körper dadurch kurz-, mittel- und langfristig verändern (also: formen), was wir in sie an Nährstoffen hineinstecken.

Schade finde ich, dass bei nur sehr wenigen Horror-Aficionados überhaupt die Bereitschaft da ist, einmal darüber nachzudenken, ob auch ihre Filme so etwas sein könnten wie Kartoffelchips: kurzfristig ein interessanter Kitzel, auf Dauer und im Übermaß ungesund, aber nicht giftig genug, um einem das Recht abzusprechen, sie zu konsumieren.
Damit meine ich nicht, dass man dieser Meinung sein muss. Allein die Bereitschaft über eine solche These nachzudenken, fehlt mir häufig. Hier sehe ich dann immer nur die (zur Genüge bekannten) Abwehrmechanismen und Defensivargumente. Vielleicht weil die Angst so groß ist, dass gleich ein Günther Beckstein um die Ecke kommt, der wieder alles verbieten will.

Ich finde das geradezu komisch, weil kein anderes Genre die Kontamination des Rezipienten durch das Kunstwerk so stark thematisiert wie der Horror.
Verwandtes finden wir vielleicht noch im Krimi, wo der Detektiv bei seiner Exploration der kriminellen Welt gefährdet ist, selbst kriminell zu werden. (Neuestes Update dieses alten Motivs: Der Profiler, der sich zu lange in den Psychopathen hineindenkt, und dann selber einer zu werden droht.)

Aber gerade das Horrorgenre ist voll von Geschichten über toxische Kunst; nehmen wir mal H.P.Lovecraft mit seinen Wahnsinn verursachenden Büchern als Beispiel. Und Filme über gefährliche Filme sind auch keine Seltenheit. Die "Cigarette Burns"-Episode von John Carpenter aus der "Masters of Horror"-Reihe fällt mir da gerade ein, oder das todbringende Video aus "The Ring" etc.


Edit:
Ich möchte an dieser Stelle nochmal einen Schritt zurück tun, denn - wenn ich mir Xilefs Ausgangsposting betrachte - haben wir vielleicht ein wenig zu sehr auf das Horrorgenre eingeschossen. Die aufgeworfene Frage "Was eigentlich prägt unsere Art, die Welt anzuschauen und zu interpretieren" blitzt ja noch an ganz anderen Stellen unserer Gesellschaft auf.

Was mich immer wieder irritiert, ist beispielsweise, wie häufig man seit einigen Jahren die Phrase "Du musst deinen Traum leben" hört. Und wie sehr dies als selbstverständliche "Wahrheit" hingenommen wird. Und zwar nicht nur in den Castingshows, wo diese Phrase vielleicht entstanden sein mag. Ich frage mich immer: Soll das jetzt Selbstverwirklichung im aktuellen Gewand sein - oder ist es nicht vielleicht eher das genaue Gegenteil davon?
 
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Masterofclay

Marco Rosenberg
Sprechprobe
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AW: Durch wessen Augen gucke ich - Was manipuliert unsere Wahrnehmung

Eine tolle Diskussion, die ihr beide mit umfang- und facettenreichen Argumenten und Gedanken hier entwickelt. Mir fehlt leider im Moment die Zeit, detailliert auf alle für mich interessanten Punkte einzugehen, deshalb knüpfe ich mal nur an den allerletzten Absatz an.

Ich finde, dass dieser "Du musst deinem Traum folgen" Gedanke die Jugendlichen von heute eher hemmt und stresst. Schon in der Schule wird jede schlechte Note fast zum Weltuntergang hochgespielt, weil man dadurch ja "seine Grundlage versaut", weil man dann schlechtere Jobchancen hat, etc. pp. Es wird den Schülern fast eingeimpft, dass sie ohne gute Noten nix werden können. Dabei sind es gerade die Misserfolge und Fehler im Leben an denen wir wachsen können, die uns wachrütteln und uns vielleicht sogar zeigen, dass wir zuvor in die falsche Richtung gegangen sind. Ich lese gerne Biografien berühmter Leute - seien es Rockstars, Künstler, Visionäre oder sonstwer - denn diese weisen oft ein achterbahnartiges Leben auf, das die Personen aber trotz Phasen von Armut und Arbeitslosigkeit oder skurrilsten Minijobs mit Elan und Durchhaltevermögen gemeistert haben. Dabei wirkt das Leben oft wie eine Suche, nach sich selbst und nach seinem Traum. Denn genau das ist ja das Problem von der "Lebe deinen Traum" Bewegung: Die meisten finden erst nach Jahrzehnten heraus, was ihr Traum bzw. Traumzustand ist. Meistens merkt man das ja erst, wenn man ihn gefunden (oder im schlimmeren Fall, wieder verloren) hat. Die Träume vom Ruhm, vom Popstar- oder Model-Dasein, sind meiner Meinung nach eher von den Medien konstruierte Substitutiv-Träume für Leute, die ihren Traum noch nicht gefunden haben, meist so jung sind, dass sie noch nicht mal mit der Suche begonnen haben.

Vielleicht sollte das Motto eher "Finde deinen Traum" sein.

Puh, jetzt habe ich ja doch eine Menge geschrieben. :) Ich hoffe mein Gedankengang ist nachvollziehbar.
 

Karpatenhund

Karpatenhund
AW: Durch wessen Augen gucke ich - Was manipuliert unsere Wahrnehmung

Marco, besser als du kann ich es nicht formulieren.

Auch ich habe das Gefühl, diese "Lebe deinen Traum"-Phrase dient in erster Linie dazu, die Hemmschwelle von unsicheren, jungen Menschen zu senken, sich bei solchen Casting- und Medienaktionen zu beteiligen. Da wird dann jemand, der gerne singt, davon überzeugt, sein Traum sei es, Popstar zu werden. Er tritt im Fernsehen auf, wird öffentlich von Dieter Bohlen gedemütigt, und dann heißt es im Off-Kommentar "Der Traum vom Popstar ist fürs Erste geplatzt."

Selbstverwirklichung bedeutet für mich eine vielseitige Entfaltung der Persönlichkeit. Mit allen Irrungen, Wirrungen und Rückschlägen. Das kann ich in diesen aktuellen Tendenzen überhaupt nicht erkennen.

Erschreckend finde ich eben gerade, dass diese Phrase "Lebe deinen Traum" dann nicht mehr nur von den Medien verwendet wird, sondern dass die jungen Leute sich diese Denke mittlerweile auch selbst zu eigen machen.
 
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