• Blut-Tetralogie   Dark Space

schaldek

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Plastik Ben

„Ich hab aber recht!“

„Hast du nicht!“

„Doch!“

„Selber doch!“

Sybille war wieder einmal in Alarmbereitschaft geraten, als sie die beiden Stimmen auf dem Rasen vor der Tür hörte. Wollte sie wirklich erneut eingreifen und sich in der Nachbarschaft als die perfekte Mama zweier ungleicher Geschwister outen, die sie gar nicht war? Nein, besser abwarten, bis sie sich beruhigten, ehe man am Ende selbst wieder bis 10 zählen musste, nur, um keinem an die Gurgel zu gehen.

„Das sag ich Mama!“, schluchzte Mara plötzlich unüberhörbar, denn sie war im Begriff, mit stampfendem Gemüt ins Haus zu kommen. Marvin hockte am Boden der Veranda und guckte Richtung Wendehammer der piekfeinen Häusersiedlung. „Aber ich hab trotzdem nun mal recht!“, motzte er eher zu sich selbst, aber in einem Ton, den Sybille sehr gut von dessen älterem, und nicht weniger trotzigen Exemplar kannte.

Mara streifte sich währenddessen - halb in der Fliegentür stehend – die Clogs ab; sie flogen in hohem Bogen in die Schuhecke der Veranda. „Aber“, holte sie nun im Vorhaben, das allerletzte Wort dazu zu sprechen, „Aber das gibt dir nicht das Recht dazu! Du darfst Ben nichts antun!“, brüllte sie in dem Wissen, dass jenes Stück menschenfarbenes Plastik vorhin vom leicht verspäteten ICE aus Frankfurt totgeküsst worden war.

„Mara, jetzt komm!“ grummelte Marvin, sich nun in der Tür an ihr vorbei stehlend: „Wir zocken TicToc!“ Sein Blick hatte sich gesenkt. Ihm tat längst alles leid, aber er konnte das irgendwie nicht sagen.

„Nööööö, ich bleib hier bei Mama!“, rief Mara endgültig; sie hatte sich schmollend auf den Boden vor der Tür fallen lassen und ihre Stoßstangenlippen ausgefahren.

Marvin trabte voller Erwartung mütterlichen Ärgers in die Küche. „Mama, bevor du was sagst“, nörgelte er sich an ihr vorbei, „Die Mara-News stimmen! Ich habe Plastik-Ben den Gar aus gemacht, weil er-“

„Weil er … was?“, fragte Sybille impulsiv. „Weil du so ein Grobian bist!? Und dann auch noch so-“ Sie stoppte sich kurz, denn wieder hatte sie ihren Sohn in einem seiner wenigen Statements unterbrochen. Das hatte sie immer noch nicht raus! Jetzt sahen beide sich kurz an und ihre Blicke prallten wie Minuspole zweier Magneten voneinander ab, um auf dem Küchenboden aufzuschlagen. Marvin schluffte schnell an ihr vorbei, steppte - mit jedem Schritt als sein eigenes Ausrufezeichen – die Treppe hoch und schmiss oben die Badezimmertür hinter sich zu, was eine Lautstärke hatte, dass es eigentlich mit einem von Mamas heftigen Ausrufen hätte beantwortet werden müssen. Sybille aber hörte nur ihre liebste Freundin sprechen: die Stille. Selbst in diesem Auge des Hurrikans hatte sie sie liebgewonnen. Ließ sie sie also sprechen, statt selbst immer die verbale Axt zu schwingen. Dann war es eben so, dachte sie erschöpft.
Mara vor der Tür am Boden, spielte in ihrem Haar und grinste, ohne, dass sie es verhindern konnte.

Marvin war nicht mehr zu hören. Schon eine ganze Weile. Und Sybille war froh, dass es in diesem riesigen, neuen, erst mit 2 Raten angezahlten Haus, ein Gästebad gab. So konnte sie Marvin diesen Zufluchtsort gönnen. Langsam hatte sie die Treppenstufen nach oben genommen und schüttelte den Kopf. Was sollte es! Sie war ja hier die Mama! Und von Mr.-Kleines-Exemplar-vom-Großen-Exemplar kam si- cher kein Friedensangebot. Das war ihr überlassen; wie immer.

Sanft klopfte sie an die Tür. „Schatz? Ich mache dir jetzt einen Kakao und dann kommst du bitte raus da, ja? Der steht nämlich gleich unten auf der Kücheninsel und wartet auf dich.“, raunte Sybille. Sie bekam keine Antwort. Auch nach einer Weile nicht. Dann eben nicht, dachte sie sich und fiel auf die alte Friesencouch im Flur.

Sybille hatte nun schon seit einer Weile beste Freundin-Besuch und lauschte dieser – der Stille – mit fast hypnotischer Gelassenheit. Mara hatte sich mittlerweile auch längst noch oben begeben – weil unten ja nichts Spannendes mehr passieren wollte - und war nun auf Mamas Schoß eingeschlafen. Es ging schließlich bereits gegen Tagesschau. Sybille horchte kurz auf, aber es bleib weiterhin vollkommen still. Na gut. Dann versuchte sie es eben nochmals. „Marvin? Vielleicht kommt Papa noch nach Hause“, sagte sie ohne jeden Ausdruck. „Und ich weiß nicht, was er davon halten wird, dass du schon wieder so üppig schmollst.“

„Lass mich!“, schnaufte er weinerlich aus einer Ecke de Badezimmers zurück, in der sie ihn nicht vermutet hätte.
„Marv?“, seufzte Sybille, „ … dein Papa … ich weiß aber nicht, wann er wieder kommt. Ich weiß es eben nicht! Da kann man eben nichts machen.“
„Aber Mama“, seufzte Marvin nun leise. „Er ist doch dein Mann. Ihr habt doch geheiratet! Und wieso weißt du nicht, wann er wieder kommt?“

Sybilles Bauch begann zu pochen. Weil er diese Info nicht hat rüber wachsen lassen, als er gestern früh aus dem Haus getürmt ist, wollte sie Marvin antworten. Weil Männer wie er immer nur so tun, als wären sie ganze Männer und es einfach nicht ab können, wenn man ihnen mal sagt, was sie wirklich sind! Schwanzlose Pimmelträger nämlich! Völlig schwanzlos, ja wohl!
Sybille biss sich auf die Lippe. Jetzt war es wohl Zeit, bis 10 zu zählen. Diese Art der Stille mochte sie gar nicht! Verflucht! Nein!, dachte Sybille sich. Sie würde jetzt nichts mehr sagen. Es kam sowieso nichts Sinnvolles mehr aus ihr, heute. Stattdessen hörte sie weiter ihrer Freundin zu, die nun überall im Haus war. Und das blieb sie auch. Komisch. Wenn Sybille schwieg, dann täten es auch alle anderen hier. Ja, da war etwas dran.

Marvin streckte sich. Es war bestimmt schon Schlafenszeit, dachte er. Ob Mama wohl geheult hatte, weil er vorhin so gemein gewesen war? Das tat sie schließlich meistens, wenn sie auf sein Gebrüll so gar nichts mehr antwortete.

„Mama?“, fragte Marv in einem Ton, der seiner Mama – wäre sie noch wach – offenbart hätte, dass er nun im Begriff war, das Badezimmer zu verlassen. „Mama! Wieso hast du gesagt, Papa ist wie Plastik Ben?! Mama?“

Noch ein paar Momente lang wartete Marvin auf eine Antwort von seiner Mutter. Mittlerweile hatte sie sich sicher ausgeheult und wäre bereit, Marvin erschöpft einfach nur in den Arm zu nehmen. Irgendwann erhob er sich dann vom Boden der Dusche, tastete nach dem Lichtschalter, entriegelte die Tür und schob sie auf. Der Lichtspalt gab Raum für die Couch im Flur, auf der Mama und Mara eine fremde, schlafende Figur aus Häkeldecke, Körpern und Händen bildeten; eine Figur, die vollkommen still da lag und die er besser schlafen ließ.

Unten im Flur dann wagte Marvin nicht den Blick zur Kücheninsel hin. Da stand mal wieder kein Kakao für ihn; so war Mama eben. Ein flüchtiger Kontrollblick konnte nicht schaden. Ja; Satz mit x, dachte er sich taub.

Unten war alles dunkel; die Siedlung lag matt da draußen, ohne Ton. In dieser Stille schien es ihm jetzt, er könne alles machen, was er wollte. So, wie heute Nachmittag, als er Richtung Bahnschienen hinters Haus gelaufen war. Mit Plastik Ben im Würgegriff. Er ging auf die Verandatür zu, durch die Papa immer - spät abends und ohne jedes Geräusch - nach Hause gekommen war. Er trat auf den Rasen, der von der Herbstkälte bereits feucht geworden war, und trotz des süßen Duftschwalls der Tannenbäume vom Nachbargrundstück nebenan, wollte er jetzt nicht durchatmen. Er wollte am liebsten gar nicht mehr atmen.

Mama steht mir viel näher, als dir, Marvin!“, widerfuhr es ihm so laut wie ein Achterbahngeräusch in seinem Hinterkopf. Mara hatte wohl recht. Ein Rattern von Worten, das ihn nun ganz nah befuhr, folgte. „Und deswegen hat mir Mama auch über Papa ein Geheimnis verraten.“, zickte Mara weiter im Kopf ihres Bruders rum. „Mama hat gesagt, er ist wie Plastik Ben! Wie Plastik Ben!“

Papa hatte es wohl nicht leicht mit Mama, dachte Marvin sich. Aber das hatte er nicht verstanden. Wo war die Verbindung von Plastik Ben mit Papa? Plastik Ben war eben aus Plastik.

Du bist dämlich und hohl, Volker!“, hatte Mama ihn einmal beschimpft. Draußen vor der Garage. Das war kurz, bevor er für immer verschwand. Papa war hohl wie-. „Oh, was?“ Marvin war auf einmal wie gelähmt. Konnte Mama das gemeint haben?

Als er noch merkte, wie eine zarte Schlange namens Wut seine Eingeweide hoch züngelte, fiel sein Blick auf etwas, das ihm jede Emotion nahm. Da, vor ihm im feuchten Gras, da lag sie! Plastik Bens Hose! Jemand hatte sie ihm ausgezogen. Jemand, der sich vergewissern wollte, dass Plastik Ben ja gar keinen-.

Marvin schnaufte leise. Das konnte nicht wahr sein! Er konnte nun ahnen, wieso Papa für immer gegangen war.

E N D E
 
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schaldek

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Hart, ja, allerdings. Das ist schon etwas subtiler, aber isses. :)
 

SeGreeeen

Kaaaaarakaluuuuuuuhhhh!!!!
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Habe die Geschichte jetzt 3 mal gelesen und noch immer nicht ganz verstanden, aber das finde ich gut. Glaube aber, dass ich jetzt endlich doch verstehe um was es geht. Möglicherweise. Ist ja recht versteckt der Hint zur Auflösung :D.
 
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