• Blut-Tetralogie   Dark Space

time-traveller

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Cheerio an alle Interessierten

Ein Thread für Geschichten aller Art, wie schön. Hier werde ich mich wohl fühlen.

Meine erste Veröffentlichung ist im Grunde die erste Kurzgeschichte, die ich jemals geschrieben habe. Ihren Ursprung hat sie in einer lauen Sommernacht in einem Zelt am Waldrand eines kleinen Ortes in Norwegen. Dort haben meine damalige Freundin und ich ein neues Spiel gespielt: Wir erzählen uns eine Geschichte, indem wir abwechselnd immer genau einen Satz dazu beitragen.
Wir haben das später noch häufiger probiert, doch nur unsere erste Geschichte fanden wir so gut, dass wir uns am nächsten Tag hingesetzt und alles aufgeschrieben haben, an das wir uns noch erinnern konnten.
Jahre später habe ich diese Aufzeichnungen wiedergefunden und dieses doch recht unrunde Konstrukt überarbeitet.

Here we go.

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Der Füller fiel ihm aus der Hand, schlug auf den Tisch auf und rollte davon. Er konnte einfach nicht mehr weiterschreiben. Der letzte Satz hatte ihn fast um den Verstand gebracht. Behutsam nahm der das eleganten Schreibwerkzeug wieder auf, ehe er auf den Boden fallen und dabei womöglich zerbrechen konnte. Wie viel ihm schon in seinem Leben zerbrochen war. Eine Bewegung ließ ihn aufblicken. Er erschrak. Die im Kerzenlicht schimmernden Schatten an der Wand jagten ihm Schauer über den Rücken. Er war allein. Das wusste er natürlich, doch nun wurde ihm bewusst, dass er nicht nur allein, sondern auch einsam war.

Diesen Ort hatte sie so sehr geliebt - die Bäume, die Hütte, den Felsen. Ihren Felsen.

Er stand auf und ließ sich wie magisch von dem Mondlicht anziehen, das durch das Fenster schien. Warum hatte er sie ausgerechnet hier verlieren müssen? War ihre Liebe zu diesem Ort, zu ihm, zu allem hier, nicht stark genug gewesen, um sie auf der Erde zu halten?

Während er den fast vollen Mond zwischen den Baumwipfeln betrachtete, begann ein einzelner Stern ganz in der Nähe des Erdtrabanten zu schimmern. Einfach so, von einem Moment auf den anderen, war er da, weder hinter einer Wolke noch hinter einem anderen Hindernis hervorgekommen. Einfach aufgetaucht. Vor Millionen von Jahren geboren schien sein Licht jetzt endlich, in diesem Augenblick seinen Weg auf die Erde, in diese Hütte gefunden zu haben. Er betrachtete den Stern eine Zeit lang. Noch unsicher, so als ob diese kleine Sonne sich nicht sicher war, ob sie wirklich dauerhaft strahlen konnte, flackerte sie immer wieder kurz auf. Es schein fast, als würde der kleine, schwach leuchtende Punkt ihm zuzwinkern, ihn anlächeln.
So wie sie ihn immer angelächelt hatte, unsicher, aber glücklich. Ein Lächeln, mit dem sie ihn so oft beschenkt hatte, dass es sich in seine Gedanken eingebrannt hatte, noch immer, Monate später.

"Mach, was du für richtig hältst. Du wirst schon wissen, was du tust." Dies waren ihre letzten Worte gewesen. Damals hatten sie sich beide zusammen an diesem Ort befunden, in dieser Hütte, und er hatte eine schwere Entscheidung zu treffen. Er hatte ihr gesagt, er müsse weggehen, aber er wollte sie nicht verlassen, hatte gehofft, sie würde ihm die Entscheidung abnehmen, indem sie versuchte, ihn am Weggehen hindern zu wollen, vielleicht sogar in Tränen auszubrechen. Aber sie hatte seine Offenbarung sehr gefasst aufgenommen, hatte ihn nur angelächelt. Es war eine andere Art von Lächeln gewesen, das hatte er damals schon gespürt, aber als sie diese Worte sprach, mit einer ungeheuren Wärme vorgetragen, hatte er alles andere beiseite geschoben und sie geküsst.

Hatte sie damals schon gewusst, was passieren würde? Hatte sie in diesem Moment womöglich diesen verhängnisvollen Entschluss gefasst, der sie ihm wegnehmen sollte? Niemand hatte ihm darauf eine Antwort geben können, nicht einmal er selbst hatte es geschafft, Klarheit in seine Gedanken zu bringen.

Er wandte seinen Blick von dem Stern ab, der das Flackern aufgegeben und sich nun endgültig fürs Strahlen entschieden hatte, legte den fertig geschriebenen Brief in einen vorbereiteten Umschlag, streifte seine an der Garderobe neben der Tür hängende Jacke über und öffnete die Tür. Kalte, klare Nachtluft schlug ihm entgegen, als er hinaustrat. Es war nahezu windstill und die Geräusche der Umgebung waren auf ein Minimum heruntergefahren. Der Wald schlief.

Er hätte den Weg im Schlaf finden können, daher machte ihm die Dunkelheit nichts aus, die ihn beim Eintreten in das dichte Geflecht aus Bäumen empfing. Auf seinen kurzen Weg begegnete er keinem Lebewesen, nur eine Eule schwang sich in sicherem Abstand von einem hohen Baum in die Lüfte. Wie in Trance setzte er einen Fuß vor dem anderen, sich unausweichlich seinem Ziel nähernd.

Plötzlich blieb er stehen. Er spürte, wie ihre Hand über seine Wange strich. Instinktiv schoss seine eigene Hand hoch, um ihre zu fassen, sie zu berühren, ihren Körper an sich zu ziehen. Doch er griff ins Leere. Nur eine Erinnerung, geweckt von einem leichten Windhauch. Eine tiefe, von Endgültigkeit durchzogene Enttäuschung nistete sich in seinem Herzen fest. Sie gewann die Oberhand und zwang ihn, seinen Weg bestimmt fortzusetzen. Sein Ziel war nicht mehr weit entfernt, der Wald begann sich schon zu lichten.

Unwillkürlich dachte er an die Zeit zurück, in der sie diesen Weg gemeinsam gegangen waren, Hand in Hand oder fest umschlungen. Jedes Mal waren sie erfüllt gewesen von einer fast schon kindlichen Vorfreude auf das, was sie am Ende dieses Weges erwarten würde, auch wenn sie natürlich genau wussten, wohin sie gingen. Auch jetzt noch zog ihn dieser Ort magisch an, wenn auch diesmal aus einem ganz anderen Grund. Tatsächlich ging er diesen Weg zum allerersten Mal ganz alleine. Sie war oft alleine hier gewesen, in der Hütte, im Wald, auf dem Felsen. Er jedoch war immer nur mit ihr zusammen hier gewesen.

Mit einem Mal ragte sein Ziel vor ihm auf. Er spürte die Atmosphäre, die diesen Ort umgab. So viele Erinnerungen, so viele glückliche und schöne Momente hatten sie hier zusammen erlebt. Deswegen hatte dieser Platz auch immer ihnen beiden gehört. Es war ihr Felsen. Ohne es wirklich darauf anzulegen hatten sie ihn zum Zentrum ihrer Beziehung gemacht. Einmal hatte er ihr ins Ohr geflüstert, dass seine Liebe zu ihr erst dann versiegen würde, wenn der Regen diesen großen Stein vollständig abgetragen hat. Nach diesen Worten hatte sie sich wortlos in seine Arme gekuschelt. Kurz darauf hatte er wahrgenommen, dass sie leise geweint hatte, ohne Regung, ohne Laut, aber die Tränen hatte sie nicht verbergen können. Er hatte sie daraufhin noch fester an sich gedrückt und eine schier endlos lange Zeit nicht mehr losgelassen. Zeit war an diesem Ort sowieso eine untergeordnete Größe. Sie verlief langsamer als in der Welt da draußen. Manchmal schien sie sogar vollständig zum Stillstand zu kommen.

Der Felsen mochte etwa fünf Meter lang und zehn Meter breit sein. Nackter, glatter Stein reichte bis zur Kante, die dann ein paar Dutzend Meter in die Tiefe führte. Am Fuße dieses Felsens lag ein kleiner Bach. Sie hatten auf diesem Felsen gesessen, nur einen Meter vom Abgrund entfernt, als er ihr seine Liebe gestanden hatte. Er hatte all seinen Mut zusammen genommen und alles auf eine Karte gesetzt, wohl wissend, dass er die Magie dieses Ortes mit seinem Vorstoß möglicherweise zerstörte. Doch ihre Reaktion war alles andere als zerstörerisch gewesen. Sie brach in Tränen aus und als sie sich aus seinen Armen gelöst hatte, sagte sie, auch sie würde ihn lieben, schon seit sehr langer Zeit. Daraufhin hatten sie sich zum ersten Mal wahrhaftig geküsst, sich innig umarmt. Die ganze Nacht hatten sie auf diesen Felsen verbracht und sich immer wieder überboten mit Anekdoten, wann ihnen ihr Liebesgeständnis in der Vergangenheit fast herausgerutscht wäre. Wie auch viele spätere Nächte hatte diese erste eine ganz besondere Magie entwickelt, einen Zauber, den er jetzt, in seiner Einsamkeit, noch immer spüren konnte. Jede einzelne Erinnerung an diesen Ort verursachte einen heftigen Stich in seinem Herzen. Es fühlte sich an, als würde es von Tausend Nadeln durchstochen und dabei zerrissen werden.

Letztendlich erzählte dieser Felsen eine traurige Geschichte. Er nahm einen kleinen Stein vom Boden und warf ihn über die Klippe. Es dauerte einige Sekunden, bis er das Platschen hörte, mit dem der Stein auf das Wasser aufprallte. Was mochte sie wohl in dieser Zeit gedacht haben? Wem galten ihre letzten Gedanken? Ihm? Ihrem Leben? Oder hatte sie sich einfach fallen lassen, frei von allen Sorgen, frei von allen Gedanken? Endete ihr Leben mit einem Lächeln? Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass sie nicht genug gelächelt hatte in ihrem Leben, obwohl sie ein so schönes Lächeln hatte.

Man hatte ihren leblosen Körper am Fuße der Klippe gefunden, eine Woche nach jenem schicksalhaften Abend, an dem er ihr offenbarte, dass er fortgehen müsse. Eine Erklärung für die weiteren Ereignisse in jeder Nacht gab es nicht. Er hatte ihr seine Entscheidung in der Hütte offenbart, hatte sie dann, spät Abends, alleine zurückgelassen, vermeintlich schlafend, weil er aufbrechen musste. Sein Flug wartete nicht. Es gab keine Indizien, keine Hinweise, keine Nachrichten, keine Erklärungen für das, was danach passiert war. Und so blieb er allein mit seinen Vermutungen, Befürchtungen und seinen Schuldgefühlen, die ihn von innen heraus zerfraßen. Aber er wollte nicht mehr alleine sein. Er wollte bei ihr sein, in ihr strahlendes Gesicht blicken, sich von ihrem vollendeten Lächeln verzaubern lassen, ihr noch einmal sagen, wie sehr er sie liebte.

Aus diesem Grund stand er nun auf diesem Felsen, einen Schritt entfernt vom Rand der Klippe, einen Schritt entfernt von ihr. Dies war der einzige Ort, an dem er zu ihr gelangen konnte. Noch einmal blickte er hinauf in den Nachthimmel, auf der Suche nach ihrem Stern, der ihm heute erschienen war. Doch das himmlische Lächeln war verschwunden. Und mit einem Mal bekam er das Gefühl, dass sie in unerreichbare Ferne gerückt war, weg von ihm, von diesem Felsen. Konnte er sie überhaupt jemals erreichen? Eine Windböe kam auf und ließ ihn wanken, brachte ihn gefährlich nahe an die Klippen. Auf der Suche nach einem festen Halt rutschte er weg und wäre fast gefallen. In seine aufkommenden Zweifel mischte sich nun auch pure Angst, Angst vor dem Fall ins Ungewisse. Er schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch. Jetzt oder nie, dachte er sich. Es war die letzte Chance, sonst würde er es vermutlich nie mehr tun, nie wieder diese Kraft und diesen Willen aufbringen. Ein allerletzter Blick zurück, dann...

Die Blumen.

Er zögerte, dann sah er genauer hin. Schließlich wandte er sich ganz um. Sie hatte diese Blumen einst gepflanzt, etwas abseits des Weges am Rande des Waldes. Unwissende hätten sie niemals entdeckt, denn sie hatte diese Blumen hinter einer Reihe von Sträuchern versteckt so angepflanzt, dass sie nur vom Felsen aus gut sichtbar waren. Immer wieder hatte sie sich in den Schutz ihrer Blumen zurückgezogen, wenn sie alleine im Wald gewesen war. Oft hatte er sie zwischen ihren Blumen liegend gefunden, manchmal schlafend, manchmal einfach nur da liegend und den Himmel durch die Baumkronen betrachtend. Er hatte sie dabei beobachtet, wie sie diese Blumen hingebungsvoll gepflegt hatte. Einmal hatte sie ihm gesagt, diese Blumen seien ein Teil ihrer Seele. Er hatte diesen Spruch mit einem Lächeln abgetan und ihm nie viel Bedeutung beigemessen. Jetzt allerdings wunderte er sich, dass sie nach all der Zeit immer noch existierten. Und nicht nur das, sie schienen in voller Blüte zu stehen, was für diese kalte Jahreszeit doch sehr unüblich war. Mit einem Mal wurde ihm klar, dass diese Blumen das Etwas waren, was ihm von ihr geblieben war. Sie hatte doch eine Spur hinterlassen, die mehr war als eine bloße Erinnerung in seinem Herzen. Diese Blumen waren ihr Vermächtnis, das es zu bewahren galt. Wer sollte sich um sie kümmern, wenn auch er nun sprang?

Mit einer Zuversicht, die er womöglich niemals würde erklären können, blickte er noch einmal hinauf in den Nachthimmel. Sofort erblickte er wieder den Stern, der ihn nun heller anstrahlte als zuvor. Sie wusste, was er vorhatte, wusste, dass er verstanden hatte. War das vielleicht sogar ihr letzter Wille gewesen? In diesem Moment wurde ihm klar, dass er hierbleiben musste, hier auf der Erde. Er musste ihr Vermächtnis pflegen, die Erinnerung an sie am Leben erhalten.

Lächelnd setzte er den ersten Schritt weg von dem Abgrund, den Blick fest auf die Blumen gerichtet.
 

schaldek

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Teammitglied
Schön. :) Die eine oder andere Formulierung fand ich nicht ganz gerade, minimale rechtschreiberische Dellen, aber sonst sehr klar geschrieben. ;)
 

time-traveller

Mitglied
Hi @schaldek, jetzt komme ich endlich zum Antworten. Vielen Dank für dein Feedback. :)
Schreibe mir gerne, welche Formulierungen bzw. rechtschreiberische Dellen dir aufgefallen sind. Hier oder über PN ist egal.
(ich habe die Vermutung, dass sich dabei herausstellen wird, dass ich an einigen Umschreibungen aus der Originalversion noch immer zu sehr hänge und die jetzt schlichtweg nicht mehr passen.)
 
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