schaldek

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Die Schere

Ich habe die Schere in der Hand. Mia beugt sich über den Tisch und nimmt sie mir weg.
Sie zischt, aber es ist nicht böse gemeint.
Sie ist ja meine Tochter und ich weiß doch Bescheid über sie. Ich bekomme Tee mit Ingwerstückchen in die Tasse und das tut mir gut. Wir zwei sitzen hier immer zusammen.
Die Zeisige singen draußen im Garten. Und ich habe keine Angst vor den Geräuschen hinter den Bücherregalen.
Sie flüstern aus dem dunklen Nebenraum.
Und Mia sieht mich wieder so an.
"Mama, sag mal, wer ist das hier auf dem Foto? Guck mal! Weißt Du das?"
Nachts, wenn die Geräusche da sind und lauter als am Tag, wegen der Dunkelheit, da habe ich oft die Schere in der Hand.
Ich muss mich doch schützen, sage ich Mia immer, doch sie versteht es nicht.
"Sieh mal, Mama. Hier. Das da bist Du, ja? Die junge Dame in dem Matrosenhemdchen. Und der junge Kerl da neben Dir, der da am Holzsägen ist, ist das? Vielleicht..." Ich weiß es doch. Johann liebte wie kein anderer. Und ich, ich liebte es, ihn zu küssen und ich weiß bis heut, wie sich das anfühlte. Später hat er mir etwas gebeichtet.
"Meine Liebste, ich schmecke an Deinen Küssen, wann Du mich begehren möchtest und wann nicht. Manche sind so ganz anders als sonst und schmecken nach warmen, purpurnen Kirschen. Und wenn sie das nicht tun, dann versuche ich es gar nicht erst mit Dir."
Das war das Geheimnis von uns. Wir waren ein Geheimnis für alle.
"Mama, ich lege Dir das Foto hier hin, ja? Neben die Teetasse. Du kannst ja noch einmal überlegen.
Ich lasse Dich kurz allein, ja? Vielleicht hilft es Dir, Dich zu erinnern. Ich dachte-"
Ich lege meine alte, graue Hand auf Mias Schulter. Sie weint und es hilft ihr immer, wenn man sie an der Schulter berührt. Sie ist meine Tochter und ich weiß doch Bescheid über sie.
"Es ist schon gut, Mama. Das mußt Du nicht. Ich mache Dich jetzt bettfertig, ja?"
Bettfertig, ja. Für die Geräusche und das Dunkel.

° ° ° °

Ich öffne die Augen hinein in die Nacht.
Mein Herz schlägt schnell.
Mein Atem geht.
Ich sehe mich nicht.
Die Schere.
Wo ist sie.
Ein Windhauch stößt kalt ins Zimmer.
Ich kann durch die Dunkelheit hindurch gar nichts sehen.
Wo ist die Schere?
Ich brauche sie doch!
"Mia?"
Das Geräusch aus der Diele.
Ein Knarren.
"Wer ist da? Mia? Bitte komm zu mir!"
Ein Knarren, lang und kräftig.
"Mia? Bitte komm doch her. Ich bin hier!"
Stille.
Ich sehe durch das Dunkel den Raum. Der Wind ist eisig.
Die Gestalt vor mir.
Das kann nicht sein!
"Johann?"
Die Uniform strahlt, die Goldknöpfe blinken. Sein Gesicht ist jung und zart.
"Liebste, ich habe sie bei mir."
Ein weißes Blitzen fährt schräg durch Johanns Gesicht, denn er reicht sie mir. Lang und glänzend und schwer ist sie.
"Die Schere!"
"Du wirst sie jetzt brauchen, meine Liebste, denn ich werde für immer gehen."
"Du gehst?"
Ich zittre. Ich habe das schon mal erlebt. Ich will nicht, dass er geht, aber ich sehe es in seinem Gesicht.
Ein Beschluss. Ein Abschied ist das.
"Das Vaterland ruft mich und ich folge. Mach es gut, meine Liebe."
"Johann?"
Die Stille.
"Johann!"
Er ist gegangen. Wieder und wieder. Und kam doch zurück. Tief in mir ist er gewesen; immer, und jetzt.
Ich kann mich selbst nicht mehr sehen.
Stille.
Der Windhauch schwebt um mich. Mit eisigem Griff. Er hebt mich an und kann mich tragen, das verstehe ich plötzlich.
Die Schere habe ich in der Hand.

° ° ° °

"Mama? Guten Morgen. Darf ich eintreten? Ist das ein herrlicher Tag da draußen. Und die Schmetterlinge treiben wie weißes Licht durch den Garten. Heute frühstücken wir auf jeden Fall da. Mama? Du weißt, ich öffne nicht einfach Deine Tür. Das hatten wir vereinbart. Aber ich muss wissen, ob mit Dir alles gut ist, hörst Du?
Wir schauen uns heute das Bild nochmal an, Mama. Ja? Vielleicht hast Du wieder eine Erinnerung? Wir machen heute wieder Training und finden raus, wer Du mal warst. Und wir entdecken Dein Leben neu, ja? Mama? An so vielen Tagen hast Du von Papa gesprochen und
das wirst Du heute auch. Das gestern muss gar nichts bedeuten, weißt Du? Mama? Und vor ein paar Tagen, da wußtest Du wieder, dass Papa zurückkam aus dem Krieg. Er hat Dich nicht verlassen. Keineswegs. Er war der beste Mensch der Welt für Dich. Und so ist er gegangen.
Mama? Dann komme ich jetzt rein. Ich kann nicht hier stehen und Du antwortest nicht! Hörst Du? Mama?"


ENDE
 
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Y

Yüksel

Pfuuuuuu heftig .... Erinnert mich an meine Mutter, als die Demenz voll Zuschlag.
 

schaldek

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Danke für den Like, Jan. :)
War eine Übung, wo es um Erinnerungen geht und natürlich Verlust. :(
 
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