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Themenstarter/in
Zu Ostern dachte ich mir, dass ich endlich mal meine aktuellste Kurzgeschichte hochladen. Diesmal habe ich versucht, etwas weniger märchenhaft zu schreiben, auch wenn es sich nichtsdestotrotz um eine Traumgeschichte handelt. Ich hoffe, sie gefällt euch. Über Feedback freue ich mich natürlich immer, gerne dürft ihr es auch vertonen.
Frohe Ostern!
Alex
Die Stadt empfängt mich mit immer gleicher Menschenleere. Der Himmel ist ein zugezogener Vorhang von undurchdringlichem Grau. In der Stille gibt es nur das leise Nieseln des Regens, durchbrochen von meinen Schritten auf dem glänzenden Kopfsteinpflaster. Manchmal, da kommt es mir vor, als würde ich noch andere Schritte hören, vielleicht auch Stimmen, die einander zuraunen, fast ungehört. Doch es gibt nur den Regen und mich in diesen verlassenen Straßen. Ich bemerke, wie mich meine Füße auf gewohntem Weg entlang tragen, durch kleine Gassen mit staubigen Fenstern und leeren Schaufenstern bis hin zur Haupteinkaufsstraße. Schlagartig erstreckt sich vor mir eine Kulisse aus Farben und Geräuschen: Bunte Auslagen, farbenfrohe Plakate, manchmal auch leise Musik. Ich bleibe an einem Spielwarenladen stehen, der gestern noch nicht geöffnet hatte. Eine Modelleisenbahn dreht stetig rauschend und zischend ihre Runden im Schaufenster, während die Sirene eines faustgroßen Feuerwehrautos durch die Scheibe tönt. Im Hintergrund klatscht, pfeift und musiziert ein schlecht eingespieltes Orchester aus Plüschtieren. Ich gehe weiter, gehe vorbei an kleinen unscheinbaren Cafés und Restaurants, Süßwarenläden und Parfümerien, aus denen die verschiedensten Gerüche wehen, vorbei an einem Geschäft für rauschende Fernsehgeräte, die nur vereinzelte Bilder zeigen. Mein Blick fällt auf die verschiedenen Uhren in der Auslage des Juweliers. Das rhythmisch vereinte Ticken erklingt bis auf die Straße. Irgendwann, ich erinnere mich nicht mehr an den genauen Tag, war mir aufgefallen, dass sie alle rückwärts laufen, Sekunden, Minuten, Stunden eines Countdowns. Die Zeit an diesem Ort verstreicht nicht, sie läuft aus oder davon oder dem Ende zu. Ich hatte es von Beginn an gespürt, dass mich die Leere, das Alleinsein auf etwas vorbereiten sollte. Tag für Tag war ich die Einkaufsstraße entlang gelaufen und hatte die Auslagen betrachtet. Mein Blick fällt auf die Schilder mit Preissenkungen, Sonderangeboten und Rabatten. 1. Es ist immer eine einzige Zahl, stets die selbe in jedem Geschäft, auf jedem Plakat und Schild. Als ich die Zahlen das erste Mal bemerkt hatte, war es die 273 gewesen, die überall geschrieben stand. Mit jedem Mal, das ich hier verbrachte, jedem unwiederbringlichen Tag waren die Zahlen kleiner geworden. 1. Meine Zeit ist abgelaufen.
Wieder setzen sich meine Beine in Bewegung und tragen mich zum Ende der Straße, die in einen kreisrunden Platz mündet, der völlig in Stille gehüllt ist, als würde die Zeit hier vollkommen still stehen. In seiner Mitte macht das feucht glänzende Kopfsteinpflaster einem Muster aus schwarz-weißen Marmorfliesen Platz. Ein Schachbrett. Ich richte meinen Blick auf die gegenüberliegende Seite des Spielbretts und erblicke sie. Nie habe ich ihr Gesicht hinter dem schwarzen Schleier erblicken können und ich vermute, dass sie womöglich keines hat. Ihr Körper ist von einer schwarzen Robe verhüllt. Mit einer geisterhaften Bewegung ihres Armes erscheinen die Schachfiguren auf dem Spielfeld, jede von ihnen so groß wie ich. Blank polierte Gesichter aus massivem Marmor blicken mir von der anderen Seite entgegen. Wie jedes Mal sind meine Figuren die weißen. Also beginne ich mit dem ersten Zug, indem ich mit erstaunlicher Leichtigkeit einen meiner Bauern zwei Felder nach vorne schiebe. Sie setzt wie jedes Mal unvermittelt zum Gegenzug an, während ich zwischen den Zügen oft minutenlang darüber nachgrübele, welcher nächste Zug mich zum Sieg führen könnte. Am Ende steht nichtsdestotrotz nur noch mein weißer König einsam da, umzingelt von schwarzen Figuren. Sie macht ihren letzten Zug. „Schach Matt“, sagt sie mit einer Stimme, die klar und kalt die Stille zerschneidet. Es sind die einzigen Worte, die ich je von ihr gehört habe, ein ums andere Mal, wenn ich verlor. Morgen ist Tag 0. Der Tag, an dem ich endlich gewinnen werde. Zum ersten und einzigen Mal.
Der blickdichte graue Vorhang wird energisch von der Schwester aufgezogen, während sich ein weißbekitteltes Grüppchen von Ärzten um den fahlen Körper im Krankenbett stellt. Maschinen halten ihn pfeifend, zischend, rauschend am Leben. Neben dem Bett sitzt eine Frau in sich zusammengesunken. Der stumpfe Blick und die tiefen Augenringe zeugen von schmerzhafter Geduld, die sie Tag um Tag aufgebracht hat. Der Chefarzt scheint sich hinter den Patientenakten verstecken zu wollen, als sie ihren Blick auf ihn richtet und ein Fünkchen Hoffnung in ihren leeren Augen aufblitzt. Sorgfältig liest er die Befunde, stellt Fragen in die Runde, Assistenzärzte umschreiben in medizinischem Fachjargon das Offensichtliche. „Wir beobachten keine Veränderung, die Untersuchungen geben Grund zur Annahme, dass keine Verbesserung mehr eintreten wird. Frau O… Sie sollten sich darüber im Klaren sein, dass er wahrscheinlich niemals wieder aufwachen wird. Ich schlage Ihnen vor, die Maschinen abschalten zu lassen.“ Die Frau starrt verständnislos erst in die weiße Kittelfront, dann ihn an. Der Hoffnungsfunke in ihren Augen ist so schnell erlöschen wie er aufgeflammt ist. Langsam erhebt sie sich und geht. Vorbei am Krankenbett und den Kitteln zur Tür. Dann dreht sie sich um. Ihr Blick fällt auf den Kranken. „Morgen.“, sagt sie mit leiser, brüchiger Stimme „Ich entscheide morgen“.
Frohe Ostern!
Alex
Morgen ist Tag 0
Die Stadt empfängt mich mit immer gleicher Menschenleere. Der Himmel ist ein zugezogener Vorhang von undurchdringlichem Grau. In der Stille gibt es nur das leise Nieseln des Regens, durchbrochen von meinen Schritten auf dem glänzenden Kopfsteinpflaster. Manchmal, da kommt es mir vor, als würde ich noch andere Schritte hören, vielleicht auch Stimmen, die einander zuraunen, fast ungehört. Doch es gibt nur den Regen und mich in diesen verlassenen Straßen. Ich bemerke, wie mich meine Füße auf gewohntem Weg entlang tragen, durch kleine Gassen mit staubigen Fenstern und leeren Schaufenstern bis hin zur Haupteinkaufsstraße. Schlagartig erstreckt sich vor mir eine Kulisse aus Farben und Geräuschen: Bunte Auslagen, farbenfrohe Plakate, manchmal auch leise Musik. Ich bleibe an einem Spielwarenladen stehen, der gestern noch nicht geöffnet hatte. Eine Modelleisenbahn dreht stetig rauschend und zischend ihre Runden im Schaufenster, während die Sirene eines faustgroßen Feuerwehrautos durch die Scheibe tönt. Im Hintergrund klatscht, pfeift und musiziert ein schlecht eingespieltes Orchester aus Plüschtieren. Ich gehe weiter, gehe vorbei an kleinen unscheinbaren Cafés und Restaurants, Süßwarenläden und Parfümerien, aus denen die verschiedensten Gerüche wehen, vorbei an einem Geschäft für rauschende Fernsehgeräte, die nur vereinzelte Bilder zeigen. Mein Blick fällt auf die verschiedenen Uhren in der Auslage des Juweliers. Das rhythmisch vereinte Ticken erklingt bis auf die Straße. Irgendwann, ich erinnere mich nicht mehr an den genauen Tag, war mir aufgefallen, dass sie alle rückwärts laufen, Sekunden, Minuten, Stunden eines Countdowns. Die Zeit an diesem Ort verstreicht nicht, sie läuft aus oder davon oder dem Ende zu. Ich hatte es von Beginn an gespürt, dass mich die Leere, das Alleinsein auf etwas vorbereiten sollte. Tag für Tag war ich die Einkaufsstraße entlang gelaufen und hatte die Auslagen betrachtet. Mein Blick fällt auf die Schilder mit Preissenkungen, Sonderangeboten und Rabatten. 1. Es ist immer eine einzige Zahl, stets die selbe in jedem Geschäft, auf jedem Plakat und Schild. Als ich die Zahlen das erste Mal bemerkt hatte, war es die 273 gewesen, die überall geschrieben stand. Mit jedem Mal, das ich hier verbrachte, jedem unwiederbringlichen Tag waren die Zahlen kleiner geworden. 1. Meine Zeit ist abgelaufen.
Wieder setzen sich meine Beine in Bewegung und tragen mich zum Ende der Straße, die in einen kreisrunden Platz mündet, der völlig in Stille gehüllt ist, als würde die Zeit hier vollkommen still stehen. In seiner Mitte macht das feucht glänzende Kopfsteinpflaster einem Muster aus schwarz-weißen Marmorfliesen Platz. Ein Schachbrett. Ich richte meinen Blick auf die gegenüberliegende Seite des Spielbretts und erblicke sie. Nie habe ich ihr Gesicht hinter dem schwarzen Schleier erblicken können und ich vermute, dass sie womöglich keines hat. Ihr Körper ist von einer schwarzen Robe verhüllt. Mit einer geisterhaften Bewegung ihres Armes erscheinen die Schachfiguren auf dem Spielfeld, jede von ihnen so groß wie ich. Blank polierte Gesichter aus massivem Marmor blicken mir von der anderen Seite entgegen. Wie jedes Mal sind meine Figuren die weißen. Also beginne ich mit dem ersten Zug, indem ich mit erstaunlicher Leichtigkeit einen meiner Bauern zwei Felder nach vorne schiebe. Sie setzt wie jedes Mal unvermittelt zum Gegenzug an, während ich zwischen den Zügen oft minutenlang darüber nachgrübele, welcher nächste Zug mich zum Sieg führen könnte. Am Ende steht nichtsdestotrotz nur noch mein weißer König einsam da, umzingelt von schwarzen Figuren. Sie macht ihren letzten Zug. „Schach Matt“, sagt sie mit einer Stimme, die klar und kalt die Stille zerschneidet. Es sind die einzigen Worte, die ich je von ihr gehört habe, ein ums andere Mal, wenn ich verlor. Morgen ist Tag 0. Der Tag, an dem ich endlich gewinnen werde. Zum ersten und einzigen Mal.
Der blickdichte graue Vorhang wird energisch von der Schwester aufgezogen, während sich ein weißbekitteltes Grüppchen von Ärzten um den fahlen Körper im Krankenbett stellt. Maschinen halten ihn pfeifend, zischend, rauschend am Leben. Neben dem Bett sitzt eine Frau in sich zusammengesunken. Der stumpfe Blick und die tiefen Augenringe zeugen von schmerzhafter Geduld, die sie Tag um Tag aufgebracht hat. Der Chefarzt scheint sich hinter den Patientenakten verstecken zu wollen, als sie ihren Blick auf ihn richtet und ein Fünkchen Hoffnung in ihren leeren Augen aufblitzt. Sorgfältig liest er die Befunde, stellt Fragen in die Runde, Assistenzärzte umschreiben in medizinischem Fachjargon das Offensichtliche. „Wir beobachten keine Veränderung, die Untersuchungen geben Grund zur Annahme, dass keine Verbesserung mehr eintreten wird. Frau O… Sie sollten sich darüber im Klaren sein, dass er wahrscheinlich niemals wieder aufwachen wird. Ich schlage Ihnen vor, die Maschinen abschalten zu lassen.“ Die Frau starrt verständnislos erst in die weiße Kittelfront, dann ihn an. Der Hoffnungsfunke in ihren Augen ist so schnell erlöschen wie er aufgeflammt ist. Langsam erhebt sie sich und geht. Vorbei am Krankenbett und den Kitteln zur Tür. Dann dreht sie sich um. Ihr Blick fällt auf den Kranken. „Morgen.“, sagt sie mit leiser, brüchiger Stimme „Ich entscheide morgen“.